Kinderreiche Familien – Ein Bloggespräch mit Nils Hitze

Nils und ich folgen einander schon ewig in verschiedenen Social Media und so habe ich über die Jahre mitbekommen, wie er Vater von immer mehr Kindern wurde. Vor Kurzem stellte er dann aber fest: „Zehn sind genug!“ Und das in Zeiten von rekordniedrigen Geburtenraten. Also hab ich ihn zum Bloggespräch eingeladen:

Annette Schwindt

Zuerst nochmal Glückwunsch zu Deiner wirklich meganiedlichen kleinen Tochter, lieber Nils! Und Danke, dass Du meine Einladung zu diesem Bloggespräch angenommen hast. Ich bin schon sehr gespannt, mehr über das Konzept Großfamilie in heutigen Zeiten zu erfahren. Du wirst doch bestimmt ständig danach gefragt, wie Ihr das alles hinkriegt, oder?

„Wie schafft ihr das?“

Nils

Lieben Dank. Ja, sie ist schon wirklich sehr niedlich, auch wenn man als Eltern da natürlich voreingenommen ist. Sehr gerne, ist mir eine Ehre. 

Die Frage “Wie schafft ihr das?”, kommt eigentlich immer gepaart mit “Welches Auto habt ihr?”, “Alle mit der selben Frau?” und „Fußballmannschaft!“ 

Grundsätzlich antwortete ich häufig “Gar nicht.” bzw. „Mal schlechter, mal besser”. 

Ich versuche es auch immer zu relativieren und etwas bescheidener zu sein (auch wenn das nur ab und zu klappt) und meine dann “Wir waren mit dem ersten überfordert, mit dem zweiten, usw.“ weil wir schlicht mega jung waren. 

Wie ist es denn bei dir mit Nichten und Neffen, wenn man nicht regelmäßig dabei ist und dann mit der vollen Wucht der kindlichen Energie konfrontiert wird, stelle ich es mir auch ziemlich anspruchsvoll vor? 

Teenager und Zukunftsangst

Annette Schwindt

Ach, als die noch kleiner waren, war ich auch noch jünger. Jetzt ist selbst die Jüngste schon Teenager, da kämpft man eher mit der Pubertät. 😉 

Ich habe meinen Teil am Umgang mit kindlicher Energie vor allem während des Studiums geleistet, als ich als Babysitterin und Nachhilfelehrerin aktiv war. Da konnte ich meine mütterliche Seite voll ausleben. Über 20 Kinder waren das über die Jahre, plus diverse Betreuungen von Jugendgruppen von Kindergottesdienst bis Freizeitbegleitung. 

Was mich inzwischen eher mitnimmt, ist die Weltuntergangsangst bei vielen Jugendlichen. Wir haben in meiner Jugend auch schlimme Zeiten erlebt und Angst gehabt wegen Tschernobyl oder dem Golfkrieg. Aber spätestens seit Corona hat das meiner Erfahrung nach ganz andere Dimensionen angenommen. 

Ich hätte natürlich auch gern Kinder gehabt, wenn es gesundheitlich möglich gewesen wäre. Aber wenn ich dann sehe, was auf die Generationen nach mir (ja, ich könnte schon Oma sein) zukommt, dann denke ich manchmal, vielleicht war‘s besser so? Ich weiß es nicht… 

Wie kam es denn dazu, dass Ihr Euch für das Aufbauen einer so großen Familie entschieden habt? War das von Anfang an geplant?

Corona und die Folgen

Nils

Ja, die liebe Pubertät, wir haben ja das volle Spektrum. Von beinahe 12jährigen, über 14- und 16jährige und die beiden Volljährigen.

Corona hat, wie du sagst, echt eine Menge angeknackst. Hier sind zwei Kinder mit Depression diagnostiziert. Jetzt noch Kriege, Krisen und der Klimawandel im Overdrive. Mich schafft das alles schon, wir merken schon, dass die Kinder unter ziemlichem Dauerstress stehen.

Zu deiner Frage zur großen Familie, tatsächlich ja, als wir uns vor, inzwischen über 20 Jahren, IRL kennengelernt haben, habe ich meiner Frau wohl erzählt, ich wollte zehn Kinder… und dann hab ich gesagt, dass ich meiner Frau dann eine Bauchstraffung schenken würde und eine Schönheits-OP. Jung und Dumm, ich weiß, aber irgendwo in dem Bravado steckte ein nicht unerheblicher Funken Wahrheit (in Bezug auf die Kinder zumindest)

Schön zu lesen dass du deine Zeit in anderer Leute Kinder gesteckt hast, hast du denn noch Kontakt mit den “Paten”kindern? 

Durchschnittliche Kinderzahl 

Annette Schwindt

Zu den Patenkindern und Neffen und Nichte wie gesagt schon. Die Babysitting- und Nachhilfe-Kinder habe ich größtenteils aus den Augen verloren. Und wenn ich doch mal eins online treffe, dann können sie sich meistens nicht mehr an mich erinnern. Spricht zumindest dafür, dass ich kein bleibendes Trauma hinterlassen habe. 😉

Dabei ist aber keines, das mehr als zwei Geschwister hat. Die meisten haben sogar nur einen Bruder oder eine Schwester. Der Durchschnittsdeutsche hat nach einer Statistik, die ich mal gelesen habe, wohl 1,3 Kinder (Anm.: Update weiter unten). Das heißt, Ihr haltet mit Eurer Familie den Durchschnitt für die Paare wie uns am Laufen, die gar keine Kinder haben. 

Du hast oben nur von Deiner Absicht, viele Kinder zu haben, erzählt. Wie hat Deine Frau reagiert, als Du ihr das gesagt hast? Dachte sie, Du machst einen Scherz, oder war sie gleich dabei?

Voller Terminkalender

Nils

Paten & Nichten & Neffen klingt ja auch schon nach einem vollen Terminkalender mit Geburtstagen. Davor “graut” es mir am Meisten: der Fülle der potentiellen Partner*innen und Enkelkinder. Ich muss mir dann alle Geburtstage aufschreiben und Jahrestage.

Oh, das mit dem Durchschnitt, tut mir leid, unsere sind schon versprochen an viele andere kinderlose Paare- 🙂

Meine Frau war, glaube ich, ziemlich “schockiert” oder zumindest überrascht. Oder hat mich vielleicht nicht so richtig ernst genommen. Sie hat darüber viele Male in ihrem Blog geschrieben, meistens an Jubiläen oder Hochzeitstagen.

Wie ist es denn auf der anderen Seite der Statistik, muss man sich wirklich ständig verteidigen, warum man keine Kinder bekommen möchte/kann?

Klischees und inspiration porn

Annette Schwindt

Da waren bei uns die Behindertenklischees davor. Mein Mann ist Rollstuhlfahrer, also wird von vornherein angenommen, das ginge bei uns eh nicht. Dass es an meiner Herzgeschichte liegt, sieht man ja von außen nicht. Und keine Sorge wegen dem Durchschnitt! Den hat meine Schwägerin für uns mit abgedeckt. 😉

Danke auch für den Link zum Blog Deiner Frau! Ich hab schon ein bisschen gestöbert und bin sehr davon angetan. Man spürt die Liebe! Da werde ich sicher noch ganz viel weiterlesen! Auf Insta folge ich ihr jetzt auch.

Irgendwie bekam ich dabei das Gefühl, dass ich doch eigentlich Deine Frau zu diesem Gespräch hätte bitten sollen…? Nur kenne ich sie ja gar nicht. Stattdessen folgen Du und ich uns schon ewig, daher die Wahl des Gesprächspartners. Aber falls sie hier mitliest und gern was beisteuern möchte, nur zu! Ich hatte hier auch schon mindestens ein anderes Bloggespräch zu dritt. 

Ich hab unter anderem von den dummen Sprüchen gelesen, die Euch immer wieder begegnen („Habt Ihr keine anderen Hobbies?“ etc.). Wir kennen sowas auch, denn vor allem zu Beginn unserer Ehe war das Thema Beziehung mit einem behinderten Menschen noch deutlich weniger öffentlich präsent als heute. Da wurde man noch viel öfter für die Pflegerin gehalten, oder die Schwester oder als wahnsinnig sozial engagiert und verantwortungsbewusst gelobhudelt. 

Wir haben daraufhin über zehn Jahre eine Online-Dokumentation geführt, in der Paare wie wir ihre Geschichte erzählen konnten. Das war noch vor Social Media. Mit den Paralympics von London hat sich dann einiges getan, seitdem ist das Thema zumindest in den Medien präsenter, wird aber immer noch gern als inspiration porn gehandelt. 

Begegnet Euch das auch, dass man Euch als ach so inspirierend hinstellt? Was überwiegt: die positiven oder die negativen Reaktionen? Und welche würdet Ihr Euch wünschen? 

„Wir sind da reingewachsen“

Nils

Oh ja, das kennen wir. Die Frage “Wie schafft ihr/deine Frau das bloß?“ ist sowas wie ein Gesprächsopener, wenn ich neue Leute kennenlerne und die erfahren, wie viele Kinder wir haben. Gerade durch die Präsenz meiner Frau auf Instagram (und unsere Blogs) und ihren offenen Umgang mit den Fehlgeburten, den Geburten und unserem Alltag (Anmerkung: Was wir im Netz schreiben ist nicht zwingend die 100%ige Wahrheit, ich finde ein bisschen anstrengend, dass Menschen die Internetpersona nicht von dem realen Menschen trennen können) wird man häufig auf so ein Podest gehoben. Die positiven Reaktionen überwiegen, aber manchmal ist es etwas fad. “Alle mit derselben Frau?” “Zwillinge?” “Beinahe eine Fussball Mannschaft?” Ich könnte Bingo spielen.

Auf “Ich bin ja schon mit zwei überfordert” antworte ich eigentlich immer mit “War ich auch. Und mit Drei und Vier”. Es ist ja nicht so, als wäre ich Vater geworden und hatte direkt 10 Kinder. Wir sind da reingewachsen. 

Wünschen würde ich mir einfach ein Gespräch ohne diesen überraschten Gesichtsausdruck. Ich erzähle schon von mir aus von meinen Kindern, keine Bange 🙂 Und klar macht das auch neugierig, geht mir ja ähnlich, wenn ich von anderen lese/höre. Ein bisschen mehr Einfühlsamkeit wäre schön. Wir haben Freunde, inzwischen zwei befreundete Paare mit je 10 Kindern, da ist man natürlich mit ziemlich ähnlichen Themen unterwegs und das hilft ab und zu mal zu erden, wo z.B. beim Thema Belastung der realistische Basiswert liegt.

Eure Arbeit für die Präsenz von Behinderten in der Gesellschaft ehrt euch, aber macht euch das nicht auch manchmal müde, häufig eben genau als “Inspiration Porn“ dargestellt zu werden und nicht einfach nur leben zu können, ohne ständig an Wände zu stoßen, Stichwort Zugänglichkeit?

Mauern in den Köpfen

Annette Schwindt

Warum ehrt uns das? Menschen sind Menschen, darum geht es. Die Kennenlerngeschichten in unserer Dokumentation haben das sehr deutlich gezeigt. Die Mauern in den Köpfen der Menschen sind die schlimmsten. Um bauliche Barrieren kann man sich zur Not herum organisieren. Aber die in den Köpfen sind echt hartnäckig. 

Solange die Menschen nicht aufhören, zwischen „denen da“ und sich zu unterscheiden, wird es keine inklusive Gesellschaft geben. Und das nicht nur in Bezug auf physische oder kognitive Fähigkeiten. Auch da wünsche ich mir mehr Empathie statt karitative Haltung. Und dass die Leute Inklusion nicht mehr für die politisch korrekte Umschreibung von Integration halten. Das sind zwei völlig verschiedene Konzepte (schön illustriert in dieser Grafik).

Unsere Dokumentation hat damals aber mehr behinderte als nichtbehinderte Menschen erreicht. Wie sich herausstellte, gab es gerade auch unter behinderten Menschen einige, die glaubten, solche Beziehungen – oder eine Beziehung überhaupt – seien für sie unerreichbar. Und die sich aufgrund unserer Dokumentation erst getraut haben, es zu versuchen, und daraufhin eine Beziehung begonnen haben. 

In der Dokumentation gab es Paare, die geheiratet haben, die Kinder bekommen haben oder sich wieder getrennt haben. Bei manchen kam mit der Zeit auch beim zuvor nichtbehinderten Partner eine Behinderung hinzu (nur drei Prozent der Behinderungen sind angeboren, ein Prozent entsteht durch Unfall, 88 Prozent hingegen durch Krankheit). Also alles wie bei anderen Paaren auch. 

Wie ist das mit Statistiken zu kinderreichen Familien? Ich hab mal gegoogelt und herausgefunden, 2023 waren es durchschnittlich 1,46 Geburten pro Frau und es gab in Deutschland 1589 Familien mit drei oder mehr Kindern. Du sagst, ihr kennt noch zwei andere Paare mit je zehn Kindern. Gibt es keine weiteren Zahlen, wie viele Kinder es jeweils in wie vielen Familien gibt?

Und werdet Ihr auch immer wieder gefragt, ob Ihr Euch im Fernsehen porträtieren lassen würdet? Wir haben das damals dummerweise einmal zugesagt. Kann nicht dazu raten…

Einfach vorleben

Nils Hitze

Das mit den Fernseh-Anfragen war mal aktuell, ja – es gab sogar mal ein Foto-Shooting in der Brigitte, mit noch nur 4 Kindern, aber wir haben genug RTL-Dokus gesehen, um da inzwischen rein ablehnend ranzugehen. Die Kommentare unter den Videos reichen mir immer vollkommen.

Das mit den Paaren ist wunderschön. Tatsächlich haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht, ich weiß jedenfalls definitiv von einem befreundeten, damals noch kinderlosen Paar, das inzwischen vier Kinder hat, weil wir es vorgelebt haben (und darüber schreiben).

Die Statistiken sind leider schwer zu bekommen, ich kenne auch nur die von Wikipedia von 2005 und da sind wir mit 10 Kindern bei 0.0020% der deutschen Bevölkerung. So gesehen ist es extrem faszinierend, dass wir zwei Familien mit genauso vielen Kindern kennen.

Ich weiß nicht, vielleicht ist „ehren“ das falsche Wort, aber wie du sagst, wir müssen so viele Mauern einreißen in den Köpfen. Haben wir mit drei Kindern mit ADHS-Diagnose und Depressionen zumindest in Grundzügen auch.

Annette Schwindt

Nils, ich danke Dir nochmal, dass Du Dir die Zeit für unser Gespräch genommen hast. Ich denke, ich spreche für uns beide, wenn ich mir wünsche, dass Menschen einander einfach als Menschen behandeln. Dann würde es keinen inspiration porn oder keine dummen Sprüche über kinderreiche Familien mehr geben. Dir und Deiner Familie wünsche ich alles erdenklich Gute und weiterhin so viel Liebe, wie sie aus Euren Beiträgen spricht. 

Über meinen Gesprächspartner

Nils mit Bart und Mütze mit einem seiner Kinder auf dem Bauch, ein anderes liegt quer darüber

Nils Hitze, geboren ’83, ist Vater von 10 Kindern zwischen 0 und 20, seit 20 Jahren verheiratet, Softwareentwickler seit 20+ Jahren, Nerd, Maker, Netzwerker und ehemaliger Barcamp-Organizer. Er bloggt unter silberkind.de


Fotos von Nils: Nils Hitze
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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