Zum Thema Hypes – Ein Bloggespräch mit Christian Müller

„Wollen wir ein Bloggespräch zum Thema ‚Alles wiederholt sich, Hypes kommen und gehen‘ machen?“, schlug mir mein langjähriger Online-Weggefährte Christian Müller aka Sozial-PR kürzlich vor. Klar, wollen wir! Hier kommt es:

Annette Schwindt

Hallo Christian, wie schön, dass wir auch endlich mal zu einem Bloggespräch kommen! Wir haben schon alles Mögliche zusammen gemacht, aber ein Bloggespräch war irgendwie noch nicht dabei. (Oder war das noch bei schwindt-pr und ist dem Umzug damals zum Opfer gefallen?) Möchtest Du kurz genauer erklären, was mit dem Thema genau gemeint ist und warum Du es vorgeschlagen hast?

Hypes verlaufen in Zyklen

Hallo Annette, stimmt, ein Bloggespräch steht noch aus, Zeit wird’s :).

Das Thema ist aus einer Mischung aus Verwunderung, Frustration und Belustigung entstanden. Wenn ich aktuell lese, wer alles KI und KI-Tools in den Himmel lobt, das Ende von Social Media vorhersagt oder prognostiziert, dass wir bald nur noch mit KI-Bots reden, habe ich ein Déjà-vu.

Sehr ähnliche Hype-Zyklen haben wir “damals” bei den ersten Chatbots (noch ohne KI), bei Spracherkennung, beim Aufkommen der Story-Formate und beim Video-Livestreaming, ja sogar beim Podcasten gesehen. 

Irgendwie scheinen alle neuen Technologen, zumindest im Medienzyklus, das Bestehende komplett zu verdrängen und alles auf den Kopf zu stellen. Ebbt der Hype dann ab, zeigt sich oft: Ja, da ist Substanz dran und manches Neue bleibt erhalten, doch die angeblich verdrängten Medien und Formate sind immer noch da, nur der Mix erweitert sich.

Für mich das beste Beispiel: das Bloggen. Dem aktuellen KI-Suche-Hype nach sind Blogs ein Auslaufmodell, weil mit KI-Such-Tools niemand mehr Websites und Blogs besuchen wird. Das haben wir aber schon so oft gehört, dass ich einfach mal mit dir darüber sprechen wollte: Welche Hype-Muster siehst du? Wie besinnen wir uns auf das Wesentliche und vor allem, wie können wir ein wenig gegen die Hype-Maschine angehen und Menschen die reflektierte Beobachtung statt Aktionismus nahebringen?

Falscher Fokus auf die Technik

Annette Schwindt

Naja, der Dauer-Hype in sich wandelnder Gestalt, von dem viele nie loskommen, ist ja das Fokussieren auf die Technik statt auf die Inhalte. So werden derzeit Linkanhänge im ersten Kommentar statt im Beitrag selbst gepostet, weil das der Algorithmus – interessanterweise sowohl bei Facebook als auch bei LinkedIn – angeblich mit mehr Reichweite belohnt. Dass das aber gegen den gesunden Menschenverstand geht und auch nur so lange funktioniert, wie die meisten es mitmachen, daran denkt keiner.

Oder dass alle wegen des Algorithmus heulen, aber die wenigsten die Konsequenzen ziehen und sich mal mit dem Fediverse auseinandersetzen.

Und zu Deiner Frage: Um sich auf das Wesentliche zu besinnen, müssten sie es ja erst mal verstanden haben. Aber solange Followerzahlen und Reichweite noch als das Maß der Dinge gehandelt werden, seh’ ich da schwarz. 

Wie kriegen wir die Leute also dazu, erst nachzudenken und echte Gespräche zu führen? Mal ehrlich: Das ist den meisten doch offline schon zu anstrengend. 

Sorry, wenn ich hier in Rage gerate, aber ich rede mir seit Ewigkeiten den Mund fusselig und trotzdem wird weiter jedem Marketing-Gebrüll hinterher gehechelt. Das frustriert mich wirklich… Wie gehst Du damit um?

Hypes als Vehikel

Deinen Rant kann ich sehr gut nachempfinden, liebe Annette, manchmal bin ich auch frustriert davon, dass wir im Jahr 2024 immer noch darüber sprechen müssen, dass Followerzahlen und Reichweite auf Social-Media-Kanälen keine sinnvollen Erfolgsindikatoren sind. 

Als Berufsoptimist, ich bin und bleibe irgendwo immer Sozialpädagoge :), habe ich allerdings die Hoffnung, dass mehr Menschen an echten Gesprächen und Austausch interessiert sind, als es den Anschein hat. 

Ich denke nur, und die Zahlen aus beispielsweise dem aktuellen Social-Media-Radar stützen die These, dass diese Menschen wenig(er) in den Social Media aktiv sind. Und wenn sie dort sind, dann selektiv, primär in geschlossenen Bereichen kommunizierend, wenig produzierend.

Diesen Trend hatten wir übrigens schon mal, und zwar als Facebook zum ersten Mal Gruppen und Nachrichten eingeführt hat. Heute sind es halt eher WhatsApp, Snapchat, Instagram und TikTok DM, Signal und Co.

Was mich zu den Hypes zurückbringt. Der Hype-Zyklus wird sich immer wieder, mit wechselnden Themen, wiederholen, damit habe ich mit abgefunden. Nach deinem wunderbaren Rant will ich meine Frage aus meinem ersten Input umformulieren. Es geht vielleicht gar nicht darum, gegen den Hype zu arbeiten. Spannender könnte die Frage sein: Wie nutzen wir den jeweiligen Hype als Vehikel, um Menschen die wesentlichen, von Hypes unabhängigen Prinzipien nahezubringen? Was meinst du, kann uns das gelingen?

Der nächst heiße Sch…?

Annette Schwindt

Ich schätze, da kann man es nur so machen, wie bei allen Veränderungen: Versuchen es vorzuleben und vielleicht mit einzelnen Projekten auch zu zeigen. Das Problem dabei ist nur, dass sowas nicht mal eben schnell geht. Und das ist ja genau das Gegenteil von dem, was die Hypes versprechen. 

Früher bin ich auch jedem Hype hinterher gerannt, schließlich muss ich als Berater ja update sein. Das wurde irgendwann zum Megastress. Also habe ich eine Auszeit genommen. Seitdem kümmere ich mich nur noch um Inhalte und überlasse die Hypes den anderen. 

Manchmal fühle ich mich wie Waldorf und Statler oben auf dem Balkon in der Muppets-Show: Ich schaue dem hektischen Treiben der anderen zu und denke mir meinen (manchmal durchaus auch satirischen) Teil. Und wenn jemand, mit dem ich arbeite, technische Hilfe zu einer bestimmten Sache braucht, habe ich nicht mehr den Anspruch, das selbst leisten zu können, sondern empfehle es an Spezialisten aus meinem Netzwerk. 

Dass die Menschen weniger in Social Media aktiv sind, nachdem ja ohnehin die meisten mehr konsumierend als produzierend unterwegs waren, überrascht mich nicht. Ich hatte schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass es sich dabei nur um eine Übergangsphase („Fische mit Füßen“) handelt. Jetzt sehen wir, wie sich das Web einerseits dezentralisiert und andererseits Dinge wie der gute alte Blog oder Communities wieder Aufwind bekommen.

Ich finde also, wir müssen Hypes nicht nutzen, oder höchstens um zu zeigen, dass wir sie nicht zu wichtig nehmen müssen, weil es Grundlagen gibt, die wichtiger sind als der nächste heiße Sch… 

Wie handhabst Du das für Dich selbst und für die Menschen, mit denen du arbeitest?

Für eine bewusste Herangehensweise

Bis zu einem gewissen Grad sehe ich deine Entwicklung auch bei mir. Früher habe ich ja, Stichwort Snapchat ;), jeden Hype auch selbst ausprobiert. Heute tue ich das immer noch, gehe dabei aber viel reflektierter und ruhiger vor. 

Ja, ich nutze TikTok – als Trendbarometer und um die Mechanismen zu verstehen. Und die App liegt nicht auf meinem Haupt-Smartphone. Ich schaue mir AR-, VR- und XR-Headsets an – aber ich muss darüber nicht mehr schreiben oder alle Tests öffentlich machen. 

Für mich selbst, und da komme ich zu den Menschen, mit denen ich arbeite, geht es inzwischen darum, die Substanz und die eigentlichen Wirkmechanismen von Hypes zu verstehen. Denn in fast jedem Hype steckt ein Stück Substanz, auch im KI-Thema aktuell. Wenn man das ganze Marketing BS mal beiseite legt und reflektiert ran geht, hat die Technologie echte Chancen – und Risiken und Kosten. 

Meinen Job sehe ich inzwischen darin, für soziale Organisationen und Menschen, die in der Sozialen Arbeit und Zivilgesellschaft aktiv sind, die relevanten Aspekte herauszuarbeiten und nutzbar zu machen. 

Da schließt sich dann auch der Kreis zu meiner Frage oben. Denn genau dafür, um den Menschen die aus meiner Sicht für sie relevanten und nützlichen Aspekte und Inhalte zu vermitteln, nutze ich teilweise den medialen Hype. Manchmal, in dem ich ein Hype-Versprechen einordne – “Ja, KI kann dich produktiver machen – wenn du weißt, was du tust” – manchmal, in dem ich bewusst provoziere und konfrontiere – “Nein, KI kann Unfähigkeit nicht ausgleichen!”. 

Da nutze ich Hypes also sowohl als Arbeitsanlass als auch als Kommunikationstrigger, wenn ich es mal so nenne. Alles aber mit einer Haltung und Herangehensweise, die deiner sehr naher kommt: Gelassen und reflektiert, nicht getrieben von den immer neuen Entwicklungen. 

Die Frage, die sich mir da aufdrängt: Wie können wir Menschen dabei unterstützen, Hypes und generell Entwicklungen in größeren zeitlichen Maßstäben zu denken und einzuordnen?

Ich bleibe als Beispiel mal bei meinem Einstiegsthema KI. Wenn die Tools wirklich was können und die Technik sich entwickelt, sollten sich Menschen damit befassen. Es spielt aber keine Rolle, ob sie sich in den ersten Wochen oder nach mehreren Monaten damit befassen. Entscheidend für eine nachhaltige Wirkung ist die strukturierte und bewusste Herangehensweise, nicht die Geschwindigkeit. 

Wie bekommen wir das, zumindest als Impuls, vermittelt? Vor allem in einer (medialen) Welt, die immer schneller werden und sein will? Hast du da eine Idee?

Grundlagen verstehen lernen

Annette Schwindt

Ich denke, da müssen wir viel weiter vorne ansetzen und erst mal Medienkompetenz unter die Leute bringen. Es muss nicht jeder programmieren können, um digitale Medien zu nutzen, aber man sollte wenigstens die Grundprinzipien verstehen. Dann kann man auch besser entscheiden, womit man sich beschäftigen will und wovon man lieber die Finger lässt. 

Es gibt inzwischen so viele Menschen, die sich jeweils in die einzelnen Themen vertiefen, dass ich wunderbar denen folgen und für Details auf sie verweisen kann, ohne jedem Hype selbst nachrennen zu müssen. Durch die Drauf-Stürzen-Phase gehen wir am Anfang alle, aber dann sollte es auch irgendwann gut sein. Ich muss nicht alles allein abdecken, dafür gibt es mein bewährtes Netzwerk. 

Oft ist es ja auch gerade gut, erst mal abzuwarten und zu schauen, ob etwas wirklich Mehrwert bringt und dauerhaftes Bestehen verspricht, oder ob es bald wieder verschwindet. Und manchmal gibt es auch ein Dazwischen wie bei Google+ damals: Gute Idee, aber keine Akzeptanz. Meines Erachtens, weil die Medienkompetenz gefehlt hat, die Vorteile gegenüber Facebook zu erkennen. Und natürlich aus Faulheit. Das Internetvolk ist eine zähe Masse. Wenn etwas nicht hyped, dann kräht kein Hahn danach.

Ha, da hätten wir ja dann doch eine Daseinsberechtigung für Hypes! Das Internetvolk dazu zu bringen, sich zu bewegen! 

Meta nutzt das ja ganz geschickt, indem es die gehypten Funktionen von anderswo (Stories, Reels etc.) einfach in seinen bestehenden Diensten (z.B. Facebook) imitiert oder die dazugehörigen Plattformen gleich aufkauft (Whatsapp, Instagram). Mit Threads wurde jetzt sogar eine Alternative für Twitter-Geflüchtete geschaffen, in die man via Instagram oder Facebook auch mal eben versehentlich reinrutschen kann.

Interessanterweise läuft das mit dem dezentralen Web ganz ohne Hypes (wenn man von der kurzen Phase als Twitteralternative mal absieht). Dabei suchen da sogar die großen Player wie WordPress oder Meta Anschluss. Oder sind Hypes nur was für individuelle Nutzer und warum hypen die Fediverse und Co. nicht?

Wie entstehen Hypes?

Bei Hypes sage ich inzwischen immer: “Wenn der mediale Hype abflacht, kann die eigentlichen Arbeit an der Sache beginnen.” Das ist sowohl bei den Twitter-Alternativen als auch bei Themen wie Virtual Reality und Metaverse so. Medial kaum noch diskutiert – in Deutschland – die Entwicklung und Anwendung in der Praxis nimmt aber weiter Fahrt auf. 

Zu deiner Frage in Sachen dezentrales Web und Fediverse müssen wir uns aus meiner Sicht einmal kurz anschauen, wie und warum Hypes entstehen. Aktuell gibt es drei Gemeinsamkeiten bei den medialen Hypes in unserem Bereich:

  1. Es geht um, für Nicht-Fachleute, neue und spannende Themen.
  2. Auch wenn sie medial überhöht werden, steckt in all diesen Technologien tatsächlich genug Substanz und Potenzial, um das Leben der Menschen – positiv wie negativ – zu verändern. 
  3. Alle Technologien werden von großen Konzernen entwickelt und gepusht. 

Kurz gesagt: Die meisten Menschen kennen die Technologie noch nicht und es steckt potenziell viel Geld drin, wenn sie in der Masse ankommt. Ist beides gegeben, wird daraus ein Hype. 

Schauen wir mit dieser Hype-Beschreibung im Hinterkopf auf das dezentrale Internet und Fediverse, ist recht schnell klar, warum es nicht hypt:

  1. Es interessieren sich fast nur Nerds und Geeks – und ich meine das absolut wertschätzend – oder für Datenschutz und Privatsphäre interessierte Menschen und Organisationen dafür. 
  2. Die potenziell spürbare Wirkung für Normalnutzende – das Internetvolk, um bei deinem Wort zu bleiben – ist gering.
  3. Es gibt keinen Konzern und kein Unternehmen, dass damit – Stand heute – großartig Geld verdienen könnte. 

Ja, Meta dockt seine Plattform Threads an das Fediverse an. Aber selbst dieser Schritt lässt innerhalb der Fediverse Community Fragen aufkommen, wie ernst das Engagement gemeint ist und ob hier zu kommerziell gedacht wird. 

Im Grunde ist es bei Social Media wie bei KI, zumindest aktuell und aus meiner Sicht: Die Alternativen, die Datenschutz, Ressourcenverbrauch und andere wichtige Faktoren ernst nehmen, sind für Normalnutzende komplizierter und, in der Nutzungserfahrung, schlechter als die kommerziellen Angebote. 

Wenn wir also einen Hype erzeugen wollen, müssen wir viel mehr für Privatsphäre, Datenschutz und die eigenen digitalen Rechte sensibilisieren. Das hat mit Medienkompetenz zu tun, ist aber nochmal eine eigene Facette davon. 

Daher denke ich: Einen kleinen Hype rund um dezentrale Netzwerke können wir nur dann erzeugen, du hast das in einer der ersten Antworten schon angedeutet, in dem wir und möglichst viele Organisationen die Nutzung vorlegen und dadurch Anreize schaffen, sich mit diesen Alternativen zu befassen. 

Was meinst du?

KI und Medienkompetenz

Annette Schwindt

Das mit der Nutzererfahrung kann ich nicht bestätigen. In der kurzen Zeit, die ich auf Mastodon aktiv bin, erweitert sich mein Netzwerk viel besser als anderswo. Damit meine ich die Qualität der neuen Kontakte, nicht Followerzahlen. Wer nur auf leere Reichweite aus ist, ist auf Mastodon falsch. Wer aber wertvolle Interaktionen sucht, der kann hier durchaus fündig werden und sein Netzwerk um effektive Multiplikatoren vergrößern. Und darum geht es ja eigentlich.

Ich weiß auch gar nicht, ob ich für Mastodon einen Hype in Dimensionen wie damals bei Facebook möchte. Vielleicht ist es ja gerade gut, dass es eher Leute anzieht, die wirklich kommunizieren wollen. Twitter war ja nicht erst seit Elon Musk kaputt, sondern schon in dem Moment, wo der Mainstream dort ankam und Seichtheit und Hate Speech die Inhalte kaputt gemacht haben. Davor kann man sich auf  Mastodon noch gut schützen. 

Und zum Vorleben durch Organisationen: Die Bundesregierung ist schon da und mit ihr andere Ämter und Einrichtungen auf der Instanz social.bund.de – einige davon allerdings noch als reine Pressetext-Verteiler, andere haben das mit der Ansprechbarkeit und dem Dialog tatsächlich schon kapiert. 

Da man WordPress-Blogs per Plugin auch zu eigenen Instanzen machen kann, wird die Zahl derer, die das nutzen, sicher noch steigen. Zumal Automattic den Entwickler dieses Plugins, Matthias Pfefferle, inzwischen eingestellt hat, um auch für wordpress.com und tumblr für Anschluss ans Fediverse zu sorgen. Dadurch würde dem bisherigen Zerfasern von Diskussionen zu Blogbeiträgen entgegengewirkt, denn die Kommentare in Mastodon auf einen von der Bloginstanz getröteten Beitrag werden im Blog unter dem betreffenden Beitrag gespiegelt. Und können von dort beantwortet werden, was dann wiederum in Mastodon ankommt. Genial, oder? Und ist gar nicht schwer einzurichten.

Unterdessen hyped ja alles um KI gewaltig. ChatGPT ist natürlich ein machtvolles Instrument, das nun auch den Sprachunbegabtesten zum Autor machen kann. Die Texte sind allerdings (noch) entsprechend floskellastig und inhaltlich nicht ohne Überprüfung nutzbar. Wer dieses Werkzeug aber richtig zu nutzen weiß, kann sich damit manche Suchmaschinen-Recherche abkürzen. 

Natürlich wird auch wieder viel Schindluder mit KI getrieben, Stichwort Deep Fakes. Auch in dieser Hinsicht ist Medienkompetenz wichtiger denn je. Wie kriegen wir die zum Hypen?

Auf den Nutzen fokussieren

Bevor ich auf deine wichtige Frage eingehe, nur ein kurzer Kommentar zum Stichwort Nutzererfahrung: Du hast aber auch eine gewisse technische Affinität und Erfahrung in Sachen digitalem Netzwerken. 😉 Viele Normalnutzende haben die Basis genau nicht und da sind wir dann auch beim Thema Medienkompetenz. 

Ich bin davon überzeugt, dass wir die nur in Breite bekommen, von Hype würde ich da nicht sprechen, wenn wir den Nutzen klarer machen. Da könnten uns die Hypes um KI und andere Technologien sogar nützlich sein. 

Denn viele dieser Hypes sorgen dafür, dass neue Technologien und Werkzeuge – aktuell generative KI – im Alltag der Menschen ankommen. Wie bei Social Media merken die Menschen dann aber nach einiger Zeit: Neben manchem Vorteil gibt es auch Nachteile und Nebenwirkungen. Eine davon: Die empfundene Überlastung durch zu viel unnütze Information und Informationsflut und Doomscrolling auf Smartphones.

Wenn wir deutlich machen können, dass Medienkompetenz das Mittel ist, mit dem Menschen wieder die Kontrolle über

  • ihre Feeds,
  • die Informationen die sie konsumieren und
  • ihre Smartphone-Nutzung zurückerlangen können, 

haben wir einen wirksamen Ansatz. Bisher wird Medienkompetenz aus meiner Sicht zu oft defizitorientiert kommuniziert – im Stile von “das fehlt dir” – und der Nutzen zu wenig beleuchtet. Was meinst du?

Niedrigschwellige Lösung gefragt

Annette Schwindt

Na, einige Aspekte des Nutzens hast Du ja gerade genannt. Wobei die meisten gar nicht wissen, was ein Feed ist, das müsste man noch niedrigschwelliger erklären. Es geht darum, zu verstehen, dass man all den als negativ empfundenen Faktoren weder hilflos noch alternativlos ausgesetzt ist. 

Der Wunsch danach ist ja schon da, sonst hätten all die nicht tot zu kriegenden sinnlosen Widerspruchspostings nicht solchen Zulauf. Die versprechen aber eines: eine einfache Lösung, bei der man nicht selber denken muss. Kopieren, posten, vermeintlich erledigt.

Heißt: Man braucht eine Lösung, die gleichermaßen niedrigschwellig anzuwenden ist. Aber wie soll das gehen? Bisher ist dafür einiges an Entscheidungen und teils gut versteckten Einstellungen nötig. Mal eben schnell geht das nicht. 

Mimikama und andere versuchen schon seit Jahren in dieser Hinsicht aufzuklären, aber selbst das kommt nicht immer richtig an. Ich hab mit meinen Büchern damals auch versucht zu helfen. Aber die Reaktion war immer dieselbe: Was nicht gemacht werden muss, wird gar nicht gemacht. Stattdessen herrscht eine „Bedien-mich“-Anspruchshaltung.

Es bewegt sich also nur was, 

  1. wenn es niedrigschwellig ist und 
  2. wenn man sich darum kümmern MUSS. 

Aber letzteres schreckt auch wieder ab… Da beißt sich die Katze also in den Schwanz…

ChatGPT schlägt übrigens eine Kombination aus Bildung, Aufklärung, regulativen Maßnahmen und der Förderung von Projekten zur Förderung von Medienkompetenz vor (Ausklappen, um Details zu lesen).

1. Bildungssystem stärken

-Medienbildung in Schulen- Fortbildung für Lehrkräfte: Lehrer sollten regelmäßig geschult werden, um mit den neuesten digitalen Entwicklungen Schritt halten zu können und dieses Wissen an die Schüler weiterzugeben.

2. Erwachsenenbildung ausbauen

– Volkshochschulen und Bildungszentren: Diese Einrichtungen könnten vermehrt Kurse zur digitalen Medienkompetenz anbieten. Themen könnten sein: sichere Internetnutzung, Erkennen von Desinformation, Datenschutz, und die Nutzung sozialer Medien.

– Online-Kurse und Webinare: Für Menschen, die weniger Zugang zu physischen Bildungseinrichtungen haben, sollten Online-Kurse und Webinare zur Verfügung stehen.

3. Aufklärungskampagnen

– Medienkampagnen: Öffentlich-rechtliche Medien, wie ARD und ZDF, sowie soziale Medienplattformen könnten Aufklärungskampagnen starten, die sich mit dem sicheren Umgang mit digitalen Medien befassen.

– Kampagnen gegen Desinformation: Spezielle Kampagnen könnten sich auf die Aufklärung über Desinformation und Fake News konzentrieren, um Bürger zu sensibilisieren und sie zu kritischem Denken anzuregen.

4. Förderung von Medienprojekten

– Lokale Initiativen und Projekte: Die Unterstützung und Förderung von lokalen Initiativen, die sich mit Medienbildung beschäftigen, kann dazu beitragen, dass mehr Bürger erreicht werden. Beispiele sind Medienwerkstätten, die sich auf die praktische Vermittlung von Medienkompetenzen konzentrieren.

– Jugendprojekte: Spezielle Programme für Jugendliche, wie Hackathons oder Coding-Workshops, können nicht nur die technischen Fähigkeiten, sondern auch das Verständnis für die Auswirkungen der digitalen Welt fördern.

5. Regulierung und Zusammenarbeit

– Zusammenarbeit mit der IT-Industrie: Zusammenarbeit mit Tech-Unternehmen könnte dazu beitragen, dass Bildungseinrichtungen Zugang zu modernen Technologien und Schulungsressourcen erhalten.

– Regulierung und Gesetze: Die Regierung könnte strengere Regeln für die Transparenz von Algorithmen, Datenschutz und die Bekämpfung von Online-Missbrauch erlassen, um die Sicherheit im Netz zu erhöhen.

6. Medienpädagogische Angebote in der Familie

– Elternbildung: Programme zur Unterstützung und Schulung von Eltern im Bereich Medienerziehung können dazu beitragen, dass auch zu Hause eine kompetente Mediennutzung vorgelebt wird.

– Gemeinsame Mediennutzung: Familien könnten ermutigt werden, digitale Medien gemeinsam zu nutzen und zu reflektieren, um den kritischen Umgang zu fördern.

7. Förderung von Forschung und Entwicklung

– Medienforschung: Investitionen in die Forschung zur Mediennutzung und den Auswirkungen digitaler Medien können helfen, neue Strategien zur Förderung der Medienkompetenz zu entwickeln.

– Innovative Bildungsangebote: Entwicklung neuer Lernplattformen und Apps, die spielerisch und interaktiv Medienkompetenzen vermitteln.

Das sind aber alles eher langfristige Maßnahmen. Eine App könnte aber zum Beispiel schon zum Hype werden. Gamifizierte Medienkompetenz? Glaubst Du, das wäre möglich?

Medienkompetenz via KI?

Ach ChatGPT, immer schnell bei der Hand mit generischen und wenig praktikablen Lösungen. Typisch untrainierte generative KI halt. 🙂 

Die Antwort auf deine Frage sehe ich, trotz meines Einstiegs gerade eben :), aber vielleicht sogar in KI-Assistent*innen. Wenn wir bei ChatGPT beispielsweise ein eigenes GPT – also eine Art virtuellen Assistenten, der in ChatGPT oder über eine App abrufbar ist, trainieren, der Menschen mit einfachen Tipps und klaren Schritt für Schritt Anweisungen dabei hilft, ihre Profile bewusst zu gestalten und ihre Feeds aufzuräumen, wäre das ein spielerischer und bequemer Ansatz. 

Ich stell mir das gerade so vor:

Ein Nutzer oder eine Nutzerin startet den Assistenten “Social Media ohne Stress”. Er stellt zuerst einige Fragen: 

  • Welche Social-Media-Kanäle nutzt du?
  • Wie fühlst du dich dabei?
  • Was willst du ändern?

Dann generiert er basierend auf diesen Antworten drei Varianten: 

  1. Aktionen in 5 Minuten oder weniger.
  2. Aktionen in 15 – 30 Minuten
  3. Aktionen für die Zeit danach

Nutzer*innen wählen die Variante aus, die sie interessiert – ich gehe mal vom 5 Minuten oder weniger Ansatz aus – und bekommt einfache Tipps. Also beispielsweise: 

  • Wenn du von Benachrichtigungen genervt bist, reduzieren wir die. Hier sind die Schritte (oder ein Video, das den Weg zeigt). 
  • Du bekommst zu viele negative Nachrichten? Lass uns mal in deine Aboliste schauen. 
  • Politik nervt dich? Wir passen zusammen deine Einstellungen und Interessen an. 

Sicher, auch noch Arbeit, aber erstens mundgerecht und Schritt für Schritt aufbereitet und zweitens mit dem KI-Hype verbunden und dadurch vielleicht interessant. 

Was meinst du, wäre sowas denkbar?

Gamification als Anreiz

Annette Schwindt

Klar wäre es denkbar, sowas zu bauen. Aber meine Erfahrung ist, dass die Leute das nicht nutzen. Ist ihnen zu viel Arbeit und setzt nicht niedrigschwellig genug an.

Ich hab es mehr als häppchenweise in meinen Büchern und damaligen Blog versucht. Facebook versucht es immer wieder mit ständig angepassten Hilfe-Angeboten. Sobald die Leute selbst aktiv werden müssen, ist Schluss. Aber wenn es ihnen von der Plattform abgenommen wird, passt es auch nicht.

Mir ging es eher um Gamification. Sowas wie Duolingo nur für Medienkompetenz. Etwas mit täglichen Mini-Zielen und Punkte-Sammeln, weitersagbaren Badges und internen Wettbewerben (friend streak) etc.

Ob und wie die Menschen das dann im Alltag umsetzen, wäre erst der nächste Schritt. Aber sie würden zumindest mal lernen, wie Social Media funktioniert, wie man Fake News erkennt, wie man nicht in die emotionale Falle geht, die falschen Sachen weiterzusagen oder auf jeden Link zu klicken etc.

Verstehst Du?

Spürbaren Nutzen bieten

Ich kann deinen Ansatz nachvollziehen, sehe aber schon bei Duolingo und ähnlichen Ansätzen, dass die nur bei denen funktionieren, die schon ein wenig intrinsisch motiviert sind. Die, um die es eigentlich geht, erreichen solche Angebote leider fast nie oder nur temporär. 

Daher der KI-Ansatz, das GPT würde es Schritt für Schritt vorgeben, also quasi die Entscheidung abnehmen, was zu tun ist. Ließe sich auch gut mit einem Gamification Ansatz kombinieren, oder? 

Es läuft am Ende wohl darauf hinaus: Medienkompetenz ist nur dann ein Thema, wenn es den Menschen einen konkreten, direkt oder kurzfristig spürbaren Nutzen bietet, sie also direkt was davon haben. 

Hat du ne Idee, in welchen Themenbereichen oder häufig genutzten digitalen Angeboten das der Fall wäre?

Annette Schwindt

Öhm… bei allen? Je nachdem, was wer gerade nutzt. Daher ja auch der Ansatz, das generell unter die Leute zu bringen, so dass sie zumindest eine Ahnung davon kriegen, was sie da tun, und wo was warum herkommt. 

Und oben schimpfst Du auf Chat GPT, aber jetzt willst Du die Technik selbst einsetzen. Was denn nun?

Unser Thema war ja eigentlich das Thema Hypes. Sind wir dem denn jetzt ein Stück näher gekommen, oder sind wir zu weit abgedriftet?

Substanz erkennen und vermitteln

Wir sind ein wenig abgedriftet und bei Medienkompetenz gelandet, was aber auch was mit Hypes zu tun hat. Und zu ChatGPT: Ich hab den unreflektierten Einsatz kritisiert und den Hype – passend zum Thema 🙂 – nicht die Technik an sich. 

Vielleicht läuft es genau darauf hinaus: In jedem Hype steckt ein Stück Substanz und unser Job, wenn ich jetzt mal alle einschließe, die sich für Medienkompetenz einsetzen und das Netz zu einem guten Ort machen wollen, besteht darin, diese Substanz zu erkennen und zu nutzen, um die zeitlosen und immer wichtigen Prinzipien der Medienkompetenz zu vermitteln. 

Oder anders formuliert: Wenn der Hype rund um ein Thema abflacht, beginnt die eigentliche Arbeit erst. Und an der grundlegenden Arbeit ändert sich trotz aller Hypes nichts. Es geht immer darum, dass Menschen die Möglichkeiten bewusst nutzen. 

Annette Schwindt

Das ist doch ein perfektes Schlusswort! Und passt wunderbar zu meinem Leitsatz „Es geht um Menschen und Gespräche“. Vielen Dank, lieber Christian, für diesen ausführlichen Austausch!

Über meinen Gesprächspartner

Christian Müller ist Sozialpädagoge und hat vor mehr als 15 Jahren das Internet und Social Media für sich entdeckt. Seitdem begleitet er soziale Einrichtungen, Träger, Verbände und Fachkräfte dabei, digitale Chancen für ihre Arbeit zu nutzen. Auf sozial-pr.net bloggt er über digitale Kommunikation, menschenfreundliches Arbeiten und verantwortungs- und wirkungsvollen KI-Einsatz. Immer getreu dem Motto: Digital braucht sozial.

Foto von Christian: privat
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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