Kürzlich wurde ich beim Surfen durch die ZDF-Mediathek auf eine Dokumentation über drei Generationen Trans-Sein aufmerksam, bei der ich meine heutige Gesprächspartnerin entdeckte. Ihre unaufgeregte Art über sich und das Thema Transsein im Laufe der Zeit zu erzählen, haben mich sehr beeindruckt. Also dachte ich, ich spreche sie einfach mal auf ein Bloggespräch an, mehr als Nein sagen kann sie ja nicht. Und siehe da, sie meldete sich zurück, wir trafen uns auf ein kurzes Kennenlern-Zoomen und los geht‘s:
Ich freue mich sehr, dass Du Dich zu diesem Bloggespräch bereit erklärt hast, Nora! Ich hatte schon zweimal versucht, mich mit anderen über das Thema Geschlechtsidentität auszutauschen, doch das hat nicht funktioniert. Aber aller guten Dinge sind bekanntlich drei. 😉
Warum dieses Thema?
Das Thema interessiert mich deswegen, weil ich selbst keine ausgeprägte Geschlechtsidentität empfinde. Ich bin zwar äußerlich als eindeutig weiblich zu erkennen, ich habe auch einige mütterliche Eigenschaften, aber ich könnte nicht sagen, dass ich mich konkret mit dem Frausein identifiziere. Ich möchte aber auch nicht lieber ein Mann sein, noch sehe ich mich als nichtbinär. Es spielt für mich einfach keine Rolle. Wenn man mich fragen würde, als was ich mich identifiziere, würde ich sagen: einfach nur als Mensch.
Nun stelle ich mir vor, dass das bei einer Trans Person ganz anders sein muss. Dass die Geschlechtsidentität dann so stark ausgeprägt ist, dass die Person schon früh erkennt, im für sie falschen Geschlecht geboren zu sein, und das existentielle Bedürfnis hat, das zu korrigieren. Verstehe ich das richtig?
Gewissheit, nicht Gefühl
Ja, Deine Vermutung trifft es. Trans Personen identifizieren sich nie mit dem Geburtsgeschlecht. Das ist ganz klar unsere Herausforderung im Leben. Da die meisten Menschen das jedoch tun, nämlich sich mit dem Geburtsgeschlecht zu identifizieren, von den Ausnahmen, wie Du sie in Deinem Fall schilderst, mal abgesehen, wird das Vorhandensein einer geschlechtlichen Identität oder Geschlechtsidentität oft angezweifelt oder auch strikt geleugnet. Tatsächlich ist sie nicht nachweisbar. Weshalb die Frage des Geschlechts vorzugsweise durch Genitalien, Keimdrüsen und Gene beantwortet wird. Die Rede ist dann gern vom “biologischen Geschlecht”. Es wird auch bevorzugt als Argument verwendet, um uns mehr oder weniger deutlich zu sagen, euch gibt es eigentlich gar nicht, ihr bildet euch eure Weiblichkeit oder Männlichkeit nur ein. Man spricht in diesem Zusammenhang immer vom “gefühlten Geschlecht”.
Aber mit Gefühl hat die Frage trans oder nicht trans überhaupt nichts zu tun. Es ist irgendwann in unserem Leben eine Gewissheit, weshalb ich lieber von einem Evidenzerlebnis sprechen möchte. Um es so auszudrücken: Wenn ich mein Geschlecht fühle, dann würde ich korrekterweise von sexueller Erregung sprechen. Nein, trans ist keine Wahl. Auch wenn wir heute noch nicht erklären können, warum es Menschen wie mich gibt, ist der Geschlechtsrollenwechsel (unabhängig von medizinischen Möglichkeiten der Geschlechtsanpassung, die es heute gibt) gewissermaßen eine anthropologische Konstante.
Kultur und Geschichte
Zu allen Zeiten und überall auf der Welt wurde und wird dieses Phänomen beobachtet, dafür verbürgen sich die Ethnologie und die Geschichtsschreibung. Was in diesem Zusammenhang auch beobachtet wird, ist die Tatsache, dass es immer auch inklusive Kulturen gab und gibt, die mehr als zwei Geschlechter kannten oder anders ausgedrückt, in denen Menschen, die wir heute trans nennen, kulturell integriert waren und sind. Ganz im Gegensatz zu unserer patriarchal geprägten Kultur.
Was das Argument “biologisches Geschlecht” ignoriert, ist das menschliche Gehirn. Aber genau das spielt auch bei der Geschlechtlichkeit eine Rolle. Der US-amerikanische Biologe Milton Diamond, der jahrzehntelang auf dem Gebiet der Neurobiologie gearbeitet hat, prägte den Satz: “Das wichtigste Sexualorgan des Menschen sitzt zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen.” Und hier sehe ich den Schlüssel für eine noch ausstehende Erklärung, warum es trans Menschen gibt. Um mehr über Milton Diamond zu erfahren, hier der Link zu einem Artikel, den ich bei queer.de veröffentlicht habe.
Und damit will ich den Gesprächsball erst mal wieder an Dich zurückgeben, denn ich vermute, Du hast bestimmt noch einen Sack voll Fragen zum Thema trans in petto, oder?
„Die Natur liebt die Vielfalt“
Danke für Deine Erklärung und den Link zu Deinem Artikel. Darin hat mich vor allem folgende Passage stark angesprochen:
„Das Problem ist nicht die Natur, denn die kannte noch nie etwas anderes als Vielfalt. Das Problem besteht vielmehr in Kulturen und in den dazugehörigen Gesellschaften, die das Gegenteil von inklusiv praktizieren. Weshalb Milton Diamond auch diesen Merksatz zum Besten gab: ’Die Natur liebt die Vielfalt, die Gesellschaft hasst sie leider.‘“
Das erleben wir ja gerade in allen Bereichen der Diversität: Mein Mann als querschnittgelähmter, ich als autistischer Mensch, andere hinsichtlich nationaler Herkunft, Sozialstatus oder sogar Alter. Inklusiv wird dabei gern missverstanden als neue politisch korrekte Variante von integrativ. Dabei unterliegt das, was jeweils gerade als Norm gilt, wie Du ja auch schon erwähnt hast, kulturellen Bedingungen.
Großes buntes Spektrum
Letztendlich gibt es doch niemanden der in allen Lebensbereichen dem entspricht, was gerade erklärte Norm ist. Wir bewegen uns alle auf einem riesengroßen bunten Spektrum aller möglichen Eigenschaften. Aber statt das als den Vorteil zu feiern, den es evolutionär ja darstellt, wird dagegen angekämpft. Dabei zeigt ja schon die Natur, dass Monokulturen nicht überlebensfähig sind.
Um aber wieder auf unser Thema zurück zu kommen: Wie bist Du zu dieser Gewissheit gelangt, dass für Dich ein Geschlechtsrollenwechsel notwendig war? (Ich tue mich gerade schwer, Worte außer fühlen oder spüren zu finden, mit denen ich meine Frage ausdrücken könnte.) Woran macht man das fest? Die Klischees sind ja immer Schminken und Kleidung. Aber da geht es doch sicher um weitaus mehr?
Wie ein asynchroner Film
Das Erkennen, trans zu sein, kann nur Gewissheit sein. Denn warum sollten wir uns all die Schwierigkeiten antun, die mit einer Transition verbunden sein können, warum sollten wir uns gegen die Widerstände stellen, die wir erfahren, wenn es nur ein Gefühl ist? Gefühle zwischen Lust, Freude, Trauer und Schmerz sind nichts Beständiges, sie kommen und gehen, aber mein trans Sein werde ich nicht mehr los. Die Gewissheit hatte übrigens auch etwas ungemein Befreiendes, weil ich nun eine Antwort darauf hatte, was in meinem bisherigen Leben eben nicht zusammen passte. Ich habe das mal mit einem asynchronen Film verglichen, in dem Bild und Ton nicht übereinstimmen. Mit dem Trans-Sein wurde mein Leben gewissermaßen synchron. Ich war damit nicht länger eine Fehlbesetzung in meiner Rolle. Das genau war meine Wahrnehmung – ständig fehlbesetzt zu sein.
Und dennoch: Ich kann wirklich nicht erklären, wie es zu dieser Gewissheit kommt, außer dass der schon erwähnte Milton Diamond darauf hinweist: Es gibt pränatale Prägungen, die postnatal aktiviert werden. Wenn wir davon ausgehen, dass wir trans geboren werden, dann muss das irgendwo “programmiert” sein. Leider gibt es mit der Geburt keine Bedienungsanleitung fürs Leben. Wäre jedenfalls sehr praktisch. Und leider haben wir auch noch keine Antwort auf die Frage, warum es trans gibt.
Was sind die richtigen Signale?
Um auf Deine eigentliche Frage endlich zu kommen: Ja, in welcher Weise sind wir Frau? Wann werden wir von den anderen als Frau wahrgenommen – gelesen, wie man heute sagt? Welche Rollenbilder kommen da ins Spiel? In der Frage von Vorbildern, von Identifikationen und Projektionen mit Blick auf Geschlechtsrollen gibt es keinen Unterschied, ob ich trans oder nicht trans bin. Welches Rollenverständnis wir haben, ist individuell verschieden und ist von kulturellen Einflüssen wie von Moden geprägt.
Tatsächlich ist es nicht nur Schminken und Kleidung, obwohl die meistens eindeutige Signale sind. Ich musste auf dem Weg zum Frausein eine Menge lernen – wie man sich bewegt, wie man spricht, wie man sich verhält – da gibt es eine Unmenge an Signalen, durch die wir für unsere Umgebung mal mehr, mal weniger eindeutig lesbar werden. Das allermeiste geschieht unbewusst und wird nur bewusst, wenn man beim Gegenüber nicht so ankommt, wie man ankommen möchte. Ein weites Feld … Und damit gebe ich an Dich zurück.
Fehlende Bedienungsanleitung
Die Probleme mit dem nicht Ankommen, wie man möchte, und mit der fehlenden Bedienungsanleitung kenne ich nur zu gut. Das ist bei uns Autisten ein großes Thema. Wir versuchen dann, das um uns herum als sozial anerkannt beobachtete Verhalten nachzuahmen, also quasi eine Maske aufzusetzen, um nicht negativ aufzufallen.
Das funktioniert allerdings nur bedingt und ist außerdem extrem anstrengend, weshalb es auch zu gesundheitlichen Konsequenzen führt. Leider auch zu einer erhöhten Selbstmordrate… Dabei unterliegt diese Art der „Verdrahtung“, wie es gern genannt wird, tatsächlich neurologischen und erblichen Faktoren.
Genderqueerness und Autismus
Kürzlich habe ich auch erfahren, dass es eine Korrelation zwischen Autismus und Genderqueerness zu geben scheint. Demnach kommen unter Autisten Menschen wie Du und ich häufiger vor als unter Nichtautisten. Interessant, oder? Warum ist das wohl so? Mein Mann stellte die Hypothese auf, dass es möglicherweise mit der erhöhten Wahrnehmungsfähigkeit von Autisten zu tun haben könnte. Demnach wäre die tatsächliche Verteilung gar nicht verschieden, sondern die autistischen Menschen wären sich ihrem Verhältnis zur Geschlechtsidentität nur klarer und würden das weniger verstecken?
Wie ist das Verhältnis von offen als solche lebenden Transpersonen gegenüber denen, die es verstecken oder vielleicht sogar zu unterdrücken versuchen? Gibt es dazu Zahlen? Und wie geht die Wissenschaft allgemein mit dem Thema um? Überwiegt die Sichtweise „Störung“ oder einfach die einer Variante des Menschseins von vielen?
Geschlechterrollen kulturell geprägt
Zunächst einmal kann ich nur feststellen, dass es wirklich interessant ist, was du über autistische Menschen erzählst. Für mich ist das allerdings Neuland, weshalb ich auch nichts über das Verhältnis von Autismus und Genderqueerness sagen kann. Nur ganz am Rande hatte ich mal vor einiger Zeit (den genauen Kontext habe ich vergessen) von einer möglichen Beziehung gehört/gelesen. Ob es darüber verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, weiß ich nicht.
Andererseits erscheint mir die erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit, von der du sprichst, durchaus als ein plausibler Anknüpfungspunkt. Denn schließlich sind Geschlechterrollen durch und durch kulturell geprägt. Die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen “Spiele” und “Rollen” müssen immer erst erlernt werden. Wenn das autistische Menschen so wahrnehmen, besitzen sie jedenfalls mehr Sensibilität und kritisches Bewusstsein als die Mehrheit der Menschen. Aus den Bedingungen der reproduktiven Biologie lässt sich nun wahrlich nichts über das Geschlechterverhältnis ableiten, die menschlichen Keimdrüsen und ihre Funktionen bleiben in dieser Hinsicht stumm.
Spiegelbild der restlichen Menschheit
Nun muss allerdings das Transsein nicht unbedingt etwas mit der Infragestellung von Geschlechterrollen zu tun haben. Ich möchte vielmehr behaupten, dass für viele trans Personen nichts anderes als eine binäre Verortung denkbar ist. Wir wollen in unserem trans*Sein Frau beziehungsweise Mann sein. Auf einem anderen Blatt steht dabei, wie wir das leben, also mit welchem Rollenverständnis, mit welchem Geschlechtsausdruck wir unsere Weiblichkeit beziehungsweise Männlichkeit ausstatten und für die anderen “spielen”.
Im Grunde sind wir trans Menschen in jeder Hinsicht ein Spiegelbild der restlichen Menschheit. Wie cis Menschen sind wir in unserer sexuellen Orientierung hetero-, homo- oder bisexuell und wir sind in unserer Weiblichkeit oder Männlichkeit je nachdem mehr feminin, maskulin oder androgyn.
Und um auf deine Frage nach Zahlen über offen beziehungsweise versteckt lebende trans Menschen zu antworten: Nein, darüber gibt es keine quantifizierbare Erkenntnis. Ein Teil der trans Menschen leben ihr Transsein jedoch nicht sichtbar, sie tauchen in die Anonymität ab, um “nur” Frau oder “nur” Mann zu sein. Sie lassen mit der erfolgreichen Transition das Transsein sozusagen hinter sich und betrachten es als einen abgeschlossenen Prozess. Ich selbst glaube jedoch, dass wir nicht aufhören, trans zu sein. Für mich war es deshalb wichtig, an einem gewissen Punkt in meinem Leben wieder als trans Frau sichtbar zu werden. Ich verbinde das mit einem ungeheuren Gefühl der Befreiung. Grundsätzlich wäre noch anzumerken, dass heute die Lebbarkeit von trans enorm gestiegen ist und trotzdem erfahren wir immer wieder Widerstände und Ablehnung.
Keine psychische Störung
Aber vielleicht wollen wir die Unterhaltung mit der Frage fortsetzen, wie beispielsweise das Transsein zu bewerten ist – oder eben auch Autismus. Lange Zeit standen wir trans Menschen im Fokus der Psychologie, die glaubte, in uns eine psychische Störung zu erkennen. Trans war also immer ein Krankheitsbefund. Diese Vorstellung ist inzwischen offiziell verabschiedet. Trans zu sein sehe ich eher als anthropologische Konstante – und komme später gerne darauf zurück -, hier erstmal die Frage an dich: Wie bewertest du Autismus?
Das ist beim Thema Autismus genauso. Vielfach wird noch von einer Störung gesprochen, wobei sich das mit dem Spektrum zwar langsam herumspricht, aber immer noch oft als linear missverstanden wird, statt als Vielfalt von Fähigkeiten oder Einschränkungen. Als ob man mehr oder weniger autistisch sein könnte…
Für mich ist Autismus Fluch und Segen zugleich. Zum einen werde ich deswegen in vielen Situationen behindert und als von der gesellschaftlich vereinbarten Norm abweichend sanktioniert. Zum anderen habe ich auch besondere Fähigkeiten, die ich nicht missen möchte.
Dazu gehört zuallererst eine besonders starke Empathie, die wir nur nicht so ausdrücken, wie Nichtaustisten es gewohnt sind. Deswegen lautet das Klischee, Autisten hätten keine Gefühle. Das stimmt aber nicht. Wir sind nur so überflutet davon, dass wir nicht wissen, wohin damit, und uns in uns selbst zurückziehen und das anderen nicht oder nur schwer mitteilen können. Daher auch meine Anmerkung zur gesteigerten Wahrnehmung oben.
Über Diversität austauschen
Das Ganze ist wie gesagt ein Spektrum von Fähigkeiten und Einschränkungen, das bei jedem anders ist und das ist es doch letztendlich wirklich bei jedem Menschen. Und genau darum geht es beim Thema Diversität. Egal ob Autist oder Trans Person. Denn was Du oben beschreibst, ist ja auch ein Spektrum. Wie so vieles andere in diesem großen bunten Lebens-Spektrum. So auch das Thema Geschlechtsidentität.
Wichtig ist doch nur, dass wir uns darüber austauschen, um einander besser verstehen zu können. Und das, ohne dass die eine Ausprägung als richtig und eine andere als falsch dargestellt wird. Was denkst Du, wie wir das schaffen können?
Kommunikation und Empathie
Das sprachbegabte Tier mit Namen Mensch ist in besonderer Weise kommunikationsfähig. Wir können über unser Leben und über das anderer Menschen nachdenken. Das unterscheidet uns wohl von allen anderen Tieren und befähigt uns zu Empathie. Darin sehe ich unsere Chance, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.
Klar, unsere Erfahrungen bleiben exklusiv und die können wir nur selbst machen. Wir können die Erfahrung anderer nicht erfahren, heißt die Regel. Aber wir können sie immerhin beschreiben. Je genauer wir das tun, desto größer das Verstehen und Nachvollziehen auf der anderen Seite. Zumindest stelle ich mir das vor. Ob das immer funktioniert? Ich weiß es nicht. Zuhören zu können ist jedenfalls eine gute Voraussetzung. Meine Beobachtung ist jedoch eher die: Viele haben ihre vorgefertigten Meinungen und sind im Grunde gar nicht gesprächsbereit, und hören einem gar nicht zu.
Etwas in dieser Art beschreibst du ja selbst, wenn du von Klischees sprichst, die dir immer wieder begegnen. Und auch du sprichst von der Empathie, die du als eine besondere Fähigkeit erwähnst.
Erfahrungen begreifbar machen
Ich habe gerade eine Autobiografie in Form einer Graphic Novel gelesen, geschrieben hat sie Maia Kobabe, eine nichtbinäre Person, die in Kalifornien lebt und Comic-Zeichnen als Beruf hat. Maia erzählt von dem Problem, eine Antwort auf die Fragen “Wer bin ich?” und “Was bin ich?” zu finden. Die Antwort lautet am Ende: nichtbinär und asexuell. Das eine bedeutet, zwar in einem weiblichen Körper geboren zu sein, sich aber mit diesem nicht zu identifizieren und ebensowenig männlich sein zu wollen, also ein Leben zwischen den Geschlechtern zu leben. Und das andere, nämlich asexuell, bedeutet wiederum, offen für Freundschaft und Initmität zu sein, aber kein wirkliches Interesse an Sex zu haben. Ausprobiert hat Maia alles mögliche, um herauszufinden, was sich richtig und gut und was sich falsch anfühlt. Aber deshalb ist Maia nicht gefühllos. Die Erregbarkeit hat bei asexuellen Menschen offenbar eine andere Qualität. Außerdem wäre bei genitalem Sex immer das Problem, dass Maia dadurch als weiblich wahrgenommen werden würde. Genau das soll aber nicht sein.
Zu Beginn der Lektüre (ich habe inzwischen für queer.de eine Buchbesprechung geschrieben) war ich mir ziemlich sicher, gut Bescheid zu wissen über Nichtbinarität. Maia hatte mich allerdings eines Besseren belehrt. Möglich wurde das durch die sehr offene Beschreibung von Maias Erfahrungen. Das gab mir die Möglichkeit, bestimmte Dinge besser einzuordnen – etwa die Frage der Körperlichkeit. Auch erfuhr ich, wie tief Selbstzweifel und Unsicherheiten in einem Menschen sitzen können und wie sehr sie hemmen und mutlos machen.
Und da sind wir wieder bei der Empathie. Je näher wir einem anderen Leben durch das Erzählen kommen, desto begreifbarer wird es.
Fehlgeschlagener Austausch
Ganz am Anfang berichtest du von zwei vorangegangenen (Fehl-)Versuchen, sich mit anderen Personen über die geschlechtliche Identität auszutauschen. Willst du darüber schreiben, was der oder die Gründe waren, dass die Kommunikation nicht “funktionierte”?
So genau weiß ich es gar nicht, ich kann nur vermuten, was die Gründe gewesen sein könnten. Zum einen muss man sich auf das ungewohnte Format einlassen, was vielen schwer fällt. Auch sonst brechen Bloggespräche manchmal ab, weil mein*e Gesprächspartner*in trotz aller Erklärungen ein einseitiges Interview erwartet hat und sich nicht für einen Austausch interessiert. Und bei diesem speziellen Thema muss mein Gegenüber natürlich auch die Selbstsicherheit und -reflektiertheit mitbringen, sich überhaupt über so etwas Persönliches austauschen zu können. Wer da noch in der Findungsphase ist, dem fällt das vermutlich schwer.
Vielfalt steht für eine bessere Welt
Da können solche Bücher wie die von Dir angesprochene Graphic Novel sicher hilfreich sein. Egal, ob einen das Thema selbst betrifft oder nicht. Denn, so mein Lieblingssatz aus Deiner Rezension: „eines ist ja wohl klar, Vielfalt steht eindeutig für eine bessere und freiere Welt.“ Bei mir haben „Nanette“ von Hannah Gadsby und „Queer Eye“ viel angestoßen, mir darüber klar zu werden, wo ich mich verorte. (Letzteres hat sich in der deutschen Version ja leider nicht durchgesetzt…) Offen darüber zu sprechen, funktioniert aber nicht mit jeder Person in meinem Umfeld. Aber das kenne ich ja auch schon vom Thema Autismus. Theoretisch sind alle total offen, aber in konkreten Situationen soll man sich dann doch bitteschön zusammenreißen und „normal“ verhalten.
Da hat mich die Haltung eines queeren jungen Erwachsenen in meinem Umfeld schwer beeindruckt, der ganz selbstbewusst vermeldete, das Thema Outing sei für ihn gestorben. Er verhalte sich künftig einfach nur als er selbst und wer nicht damit kann, der hat halt Pech gehabt. Das versuche ich auch, aber es gelingt mir nicht immer.
Auch ein Thema beim ESC
Wie Du auch in Deiner Rezension ansprichst, hat, während wir beide dieses Gespräch führen, Nemo aus der Schweiz den ESC mit einem Lied über seine Selbstfindung als nonbinärer Mensch gewonnen und erhält dafür zum einen viel Begeisterung, aber zum anderen auch viel Hatespeech. Ich finde Nemos Gesang wirklich beachtlich und das Lied hat mich ehrlich bewegt. Also (auch wenn mir persönlich der französische Beitrag noch besser gefallen hat) verdient gewonnen.
Was denkst Du? Hat das jetzt nur eine vorübergehende Wirkung, weil es dem Thema Genderqueerness einen aktuellen Aufhänger verschafft, oder kann so etwas ein Meilenstein in Sachen Diversität werden und mehr Empathie für unseren Umgang miteinander erreichen?
Leben ist Lernen
Bevor ich auf Deine Frage eingehe, wie das ESC-Ereignis zu bewerten ist, erst noch ein paar Bemerkungen zu den nicht stattgefundenen Bloggesprächen, von denen Du anfangs sprichst.
Tja, das Leben ist immer auch ein Lernprozess. Gerade wenn es um einen selbst geht und unabhängig von so umstürzenden Ereignissen wie der Erkenntnis, trans* zu sein. Von einem meiner Lieblings-Philosophen, dem US-Amerikaner Stanley Cavell, stammt die Aussage, die mir sofort einleuchtete, weil sich darin die eigene Erfahrung widerspiegelt:
“Das Los, ein Selbst zu besitzen – menschlich zu sein -, ist eines, bei dem das Selbst stets gefunden werden muss; es ist vom Schicksal bestimmt, gesucht zu werden oder nicht; erkannt zu werden oder nicht.”
Und auch wenn wir unser Selbst gefunden haben, heißt das noch lange nicht, dass wir dafür eine vermittelbare Sprache besitzen. Deshalb kann ich natürlich schon Menschen verstehen, die ein solcher Dialog, wie wir ihn hier führen, überfordert und darum kaum oder nicht möglich ist. Das verlangt viel Reflektiertheit. Auch dass der Dialog schriftlich geführt wird, ist eine nicht zu unterschätzende Hürde. Und letzten Endes ist es auch das Dialog-Format, das mehr Anstrengung verlangt als “nur” Interviewfragen zu beantworten.
Identität und Wissensaustausch
Ich hatte jetzt drei anstrengende, aber schöne Tage hinter mir. Am Freitag gab es an der Freien Universität eine Veranstaltung zum Thema “Anerkennung Trans/Feminismus”. Ich war eingeladen, an einem Podiumsgespräch zum Thema trans*Aktivismus teilzunehmen. Samstag und Sonntag traf sich eine Gruppe von Forschenden zur trans*Geschichte. Das ist ja auch mein Thema, das nun langsam verschriftlicht werden soll (ist längst überfällig). Weshalb ich das erwähne: Wer wir sind, müssen wir immer erst lernen, weshalb das Leben stets als Lernprozess beschrieben werden kann (obschon es Zeitgenoss*innen gibt, bei denen sehr früh der Horizont abgeschlossen ist und wo nichts mehr rein und nichts mehr rausgeht). Das trifft aber auch auf das kollektive Wissen zu. Bislang fehlt uns trans*Menschen eine Geschichte als eine umfassende Erzählung, bislang haben wir nur eine Vergangenheit. Erfreulich ist, wie viele junge Menschen gerade damit beschäftigt sind, diesen Mangel zu beseitigen und Wissen zu sammeln. Geschichte als Erzählung unseres Herkommens hat etwas Identitätsstiftendes. Das fehlt und wird dringend gebraucht.
Sprache bedingt das Denken
Und um endlich auf Deine Frage zurückzukommen, hier noch ein paar Worte, wie ich das Thema “nichtbinär” und “genderqueer” bewerte. Ich glaube, daran ist überhaupt nichts neu. Neu ist die mediale Beachtung, die das Thema genießt und weshalb manche denken, das sei nur Hype, Trend oder Mode. Die Menschen, die das leben, hat es mit Sicherheit schon immer gegeben. Die Frage war jedoch, ob sie das sichtbar leben konnten. Und ein zweiter Aspekt ist dabei die Sprache – heute gibt es Begriffe, die es früher nicht gab. Es ist meines Erachtens ein Trugschluss zu glauben, nur was wir benennen können, existiert auch.
Du liest Bücher, hörst Musik, siehst Filme – was meinst Du: Wäre es nicht toll, wenn Menschen sich zum Beispiel entschließen würden: Ich lese eine Zeitlang nur Bücher zu Themen, die mich nicht selbst betreffen – zum Beispiel Rassismus, Behinderung, Antisemitismus, Queerness. Denn ich höre immer wieder “das betrifft mich ja nicht”, aber alles Menschliche sollte einen doch etwas angehen. Oder, was meinst Du?
Diversität geht alle an
Ja, das sehe ich auch so. Zumal es Themen gibt, die jeden irgendwann betreffen können. Nur drei Prozent der Behinderungen sind angeboren, ein Prozent kommt durch Unfall zustande, 88 Prozent hingegen durch Krankheit! Und gerade in einer Gesellschaft, deren Mitglieder immer älter werden, sollte das ein Thema sein. Gerade auch unsichtbare Behinderungen wie Neurodivergenz und auf der anderen Seite der Ableismus..
Genauso wie Rassismus, den sicher die meisten Menschen weit von sich weisen, sich aber trotzdem manches Mal rassistisch verhalten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Man denke nur an das „Wo kommen Sie her“-Beispiel. Dazu hatte ich auch mal ein Bloggespräch angefangen, das dann aber aus gesundheitlichen Gründen nicht zu Ende geführt werden konnte. (Da suche ich noch eine*n neue*n Gesprächspartner*in. Falls sich also jemand berufen fühlt, bitte melden!)
Was mich daran erinnert, dass ich mal eine erboste Zuschrift bekam, eines meiner Bloggespräche sei nicht lesbar gewesen, weil mein Gegenüber konsequent gegendert hat. Öffentlich kommentieren wollte die Person das aber nicht. Da hatte wohl jemand Angst vor den Antworten.
Wie der Intoleranz begegnen?
Gerade erst kürzlich ist mir außerdem etwas passiert, wo ich mich schwer zusammenreißen musste, ruhig und sachlich zu bleiben. In einer Unterhaltung mit einer Frau aus meiner Elterngeneration kamen wir auf das Thema Queerness. Da brach es aus ihr heraus, dass sie ja kein Problem mit den Homosexuellen habe, sie kenne da auch ein Paar. Zwei Frauen. Dabei sei die eine zuerst mit einem Mann verheiratet gewesen und jetzt mit einer Frau und jetzt wollten die auch noch Kinder. Es könne ja jeder leben wie er will, aber das „die“ dann auch noch Kinder wollten… Und im Kindergarten würden die Kleinen dann mit all dem Gerede über das Queersein verwirrt, bis sie denken, das sei normal und man müsse so sein.
Ich hatte wie gesagt Mühe, ruhig zu bleiben, zumal es sich um jemanden handelt, den ich in meiner Jugend als sehr progressiv erlebt hatte. Ich versuchte, ihr ruhig zu erklären, dass Kinder nicht vom Kindergarten oder sonst wem queer „gemacht“ werden, und das ich es völlig natürlich finde, wenn zwei Menschen, die sich lieben, das an die nächste Generation weitergeben wollen. Und dass es nicht darauf ankommt, ob die Eltern queer sind, oder nicht, sondern darauf, ob sie für ihre Kinder da sind und ihnen das Urvertrauen schenken, geliebt zu werden so wie sie sind. Da wurde das Gespräch schnell beendet. Mir geht das immer noch nach, weil mich sowas so ratlos zurücklässt. Wovor haben diese Leute solche Angst? Wie reagierst Du in solchen Situationen?
Trigger und Reflexe
Ich werde glücklicherweise eher selten direkt mit solchen ignoranten, intoleranten, diskriminierenden oder, um es kurz zu machen, einfach nur dummen Reaktionen konfrontiert. Ich weiß natürlich von deren Vorhandensein. Weshalb ich zu der etwas launigen Einsicht kam: Dummheit ist das Zuverlässigste am Menschen, alles andere ist Glück. Ich weiß, das ist übertrieben und trifft trotzdem zu.
Da ich journalistisch arbeite und immer wieder trans*Themen politisch kommentiere, erlebe ich in den Kommentaren, wie wenig selbst in den zustimmenden Antworten die Menschen wirklich den Text gelesen haben können und erst recht in den negativen. Meine Erfahrung ist: Es reichen bestimmte Begriffe und Formulierungen, um negative oder positive standardisierte Reaktionen hervorzurufen. Wir sprechen heute von Triggern. Es geht so gut wie nie um eine inhaltliche Auseinandersetzung oder wenigstens um eine echte Kommunikation, die diesen Namen verdient, sondern fast nur um Reflexe.
Verunsicherung und Überforderung
Ich weiß auch, wie geradezu hysterisch und genervt auf die gendergerechte Sprache reagiert wird – und da scheint die Ablehnung in der Gesellschaft zu überwiegen. Weil aber nicht einmal die Bereitschaft besteht, sich wenigstens ansatzweise sachlich damit zu befassen, frage ich mich, was geschieht da in und mit den Menschen, dass sie so heftig reagieren. Der Soziologe Steffen Mau nennt es die Verunsicherung von Handlungsroutinen. Verhaltensänderungen werden in diesem Zusammenhang als biografische Zumutungen empfunden.
Eine Standardantwort ist “verstehe ich nicht”, aber ohne sich die Mühe zu machen, das zu ändern. Steffen Mau fand auch mit seinem Forschungsteam heraus, dass die überwiegende Ablehnung gendergerechter Sprache durch alle Generationen gehe, weshalb es auch keine Hoffnung gebe, die Akzeptanz würde sich sozusagen biologisch herstellen. Dennoch weiß ich, dass Kultur und damit zusammenhängende Einstellungen und Verhaltensweisen und so auch die Sprache sich permanent verändert. Wir brauchen nur mal fünfzig Jahre zurückgehen, um zu begreifen, dass gesellschaftlicher Wandel eine Realität ist. Im Moment scheint die Überforderung zu dominieren. Deshalb müssen wir aufpassen, dass der tendenziell zu beobachtende Backlash nicht zu mächtig wird.
Vielfalt vorleben und aufklären
Ja, das beobachte ich auch. Ich denke, wir können nur versuchen, Vielfalt vorzuleben und zu zeigen, dass da nichts ist, vor dem man Angst haben müsste.
Danke Dir noch einmal, dass Du Dir die Zeit für diesen Austausch genommen hast! Vielleicht trägt so ein Bloggespräch wie dieses ja auch zu etwas mehr Aufklärung bei? Das würde ich mir jedenfalls wünschen.
Über meine Gesprächspartnerin
Nora Eckert, 1954 bei Nürnberg geboren und aufgewachsen, zieht Ende 1973 nach West-Berlin und entdeckt dort ihr trans*Sein. Lebt seit 1976 als transFrau und Frau (ist immer beides), arbeitet zunächst im legendären Travestiecabaret Chez Romy Haag und wechselt 1983 ins Tagleben zurück. Nimmt einen Bürojob an und arbeitet nebenbei journalistisch. Sie wird Opernkritikerin und schreibt für Fachzeitschriften und Tageszeitungen. Hinzu kommen Buchpublikationen zu opern- und theatergeschichtlichen Themen. 2021 erscheint ihr Memoir „Wie alle, nur anders“ und 2023 der Essay „Außerhalb oder innerhalb der Binarität? Sind wir unsere Genitalien?“. Sie ist Vorständin im Bundesverband Trans und in dem Verein TransInterQueer. Sie beschäftigt sich mit dem Thema trans und Alter und arbeitet aktuell an einer trans Geschichte BRD/DDR. Mehr unter nora-eckert.de
Foto von Nora: ZDF/Gina Bolle
Avatar von Annette: tutticonfetti
In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.
Dies ist mein persönliches Blog, auf dem ich alle meine vorherigen Websites zusammengefasst habe. Daher die buntegemischten Themen: Ich führe Bloggespräche und blogge über Persönliches, Digitales und Kulturelles. Ich liebe es, Menschen zu fotografieren und mich mit Kunst zu beschäftigen. Manchmal schreibe ich auch noch was anderes als Blogbeiträge. Für andere bin ich als Wegbegleiterin in Sachen Kommunikation aktiv. Vor allem bin ich aber eins: Ein Mensch!