Vorsicht vor Blendern – Ein Bloggespräch mit Sebastian Freitag

Das Marktgeschrei derer, die das schnelle Geld via Internet versprechen, ist inzwischen unerträglich. Überall werden schnelle Tausender in Followerzahlen und monatlichen Einkünften versprochen. Natürlich nur, wenn man beim entsprechenden Coach dafür ein Webinar für nur X Euro bucht. Nachdem sich Sebastian Freitag kürzlich schon in einem Blogbeitrag damit beschäftigt hatte, wollen wir das Thema hier noch einmal aufgreifen:

Annette Schwindt

Vielen Dank, dass Du Dich mit mir noch einmal über die Blender austauschen willst, lieber Sebastian. Dein Artikel hat mir so aus der Seele gesprochen, dass ich ihn gleich überall weitergesagt habe. Was hat Dich denn dazu veranlasst, das Thema aufzugreifen?

Versprechen vom schnellen Erfolg

Sebastian Freitag

Hi Annette, auch Dir ein Dankeschön für das Gespräch. 🙂

Tja, wie das immer so ist … man scrollt durch diverse Socialmedias und wird heutzutage an jeder “Straßenecke” angequatscht. Hier ein super-easy-Erfolgsrezept, da ein “so einfach wirst du glücklich!”-Sprech. So war es einfach mal an der Zeit was zusammenzuschreiben. In der Gesamtgemengelage, die wir in Deutschland gerade so erleben, gewinnt man den Eindruck, dass a) Geld auf den Bäumen wächst (wenn man nur das richtige Mindset hat) und b) man sich schon gar nicht dafür anzustrengen bräuchte. Finde ich irgendwie strange … aber vielleicht bin ich auch schon zu alt für den Sch…! 😀 Mir tun einfach die Leute leid, die sich da große Hoffnungen machen und dann auf die Nase fallen. Wie ist da deine eigene Einschätzung?

Annette Schwindt

Da bin ich ganz bei Dir. Ich erlebe immer wieder, dass Menschen zu mir kommen, nachdem sie so jemandem auf den Leim gegangen sind und da richtig Geld gelassen haben. Dass sie das tun, liegt daran, dass die Außenwahrnehmung von digitaler Kommunikation und die dahinter stehende Realität quasi nichts mehr miteinander zu tun haben. Nach außen sieht man die ganzen Influencer und Co., die scheinbar mühelos mit ein bisschen Herumposten angeblich schnell und easy reich und berühmt werden. Wenn man dann sagt, dass das so schnell und easy gar nicht geht, sondern wie viel permanente Arbeit dahinter steht, ist man zu unbequem. Da wird lieber denen nachgerannt, die das alles so leicht aussehen lassen. Klappt dann halt nur nicht…

Was ich mich frage, ist, wie die Anbieter solcher unhaltbarer Versprechen dann damit durchkommen, dass es nicht funktioniert? Da kommt es ja bestenfalls zu einem kurzfristigen Anstieg der Followerzahlen aus der eigenen Bubble, aber dann bricht das schnell ein. Denn schließlich nützt eine hohe Followerzahl allein überhaupt nichts, sondern ist gegenüber der organisch gewachsenen sogar kontraproduktiv, weil sie die Interaktionsrate senkt.

Fragt diese Anbieter nachher keiner, weil es den Reingefallenen peinlich ist? Oder sagen die Anbieter ihnen dann einfach, sie hätten bei einem der Schritte im ach so unfehlbaren Pauschalrezept halt was falsch gemacht? Wie kommen die Blender immer wieder damit durch?

Auf den Leim gegangen

Sebastian Freitag

Ich glaube, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen viel damit zu tun hat. Wir vergessen schnell, die nächste Sau wird durchs Dorf getrieben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Zum anderen trauen sich vermutlich nur wenige Betroffene darüber zu berichten, dass sie jemandem auf den Leim gegangen sind. Wer gibt schon gern zu, dass er geneppt wurde. Wenn der Betrag/Misserfolg nur gering genug ist, dann ist es vielleicht nicht der Rede wert. Ich habe keine Ahnung, wie hoch die Schmerzgrenze wohl sein mag, aber es wäre bestimmt mal eine interessante Statistik. 

Ich behaupte aber einfach mal, dass die meisten „Angebote“ mit Kosten verbunden sind, für die kaum jemand einen Anwalt (und damit verbundene Kosten) in Anspruch nimmt.

Zum anderen gibt es sicherlich Menschen, die erst später merken, dass sie an ein Schneeballsystem geraten sind und der Weg daraus möglicherweise nicht so ganz einfach ist. Da wird man sicherlich nicht viele Insights erfahren, da man davon ausgehen kann, dass hohe Vertragsstrafen fällig werden, wenn man aus dem Nähkästchen plaudert?

Annette Schwindt

Also in den Fällen, die ich bisher mitbekommen habe, gab es kein Schneeballsystem oder Vertragsstrafen. Da war einfach eine Coach-Person, die wilde Erfolgsgarantien gemacht hat. Tatsächlich wurden dann aber nur Schubladenlösungen von vorgestern oder Tools verkauft, die die Coachees noch mehr Geld und vor allem Zeit gekostet haben, die sie hätten besser nutzen können. Beliebt sind auch Gruppen, in denen man sich quasi gegenseitig coacht, der Blender aber das Geld dafür bekommt. Und die Preise sind von drei- bis vierstellig im Monat. Gern verknüpft mit zeitlich eng limitierten Rabatten.

Solche Erfolgsversprecher*innen fliegen dann auf, wenn das Versprochene ausbleibt. Manchmal entlarven sie sich über ihr eigenes Bullshit-Bingo, manchmal werden die Coachees misstrauisch, wenn sie merken, dass ihnen zwar bestimmte (natürlich kostenpflichtige) Tools als das Nonplusultra angepriesen werden, die von den Coaches selbst aber gar nicht genutzt werden, die nur einen Affiliatevertrag mit den dazugehörigen Firmen haben.

Viele finden da aber gar nichts dabei, sondern halten das für ganz normal.  Ist das am Ende einfach die neue Art zu beraten in Zeiten des durchkommerzialisierten Internets und wir sind nur Dinosaurier aus einer vergangenen Zeit? 

Scharlatane und Schubladenlösungen

Ja das kann sein 😀 … aber diese Mechanismen gab es schon immer. Denk mal an die Quacksalber zurück die in vergangenen Jahrhunderten den Menschen irgendwelche Zaubermittelchen und Tinkturen angedreht haben. Wenn Menschen an etwas glauben wollen, dann tun sie das. Das Internet und speziell die Socialmedias haben das Spielfeld nur unendlich vergrößert. Krass wird es im Bereich Life-Coaching. Da laufen so viele Scharlatane rum, die echt emotionalen Schaden anrichten. Da habe ich vor ein paar Tagen einen Bericht (im Blogartikel verlinkt) gesehen und dachte “Wow, was die Leute so mit sich machen lassen!”

Aber ja, generell wird viel “von der Stange” angeboten und Schema F als total individuelle Lösung verkauft. Wenn ich diese ganzen Super-Verkaufs-Funnel-Landingpage-Kacke sehe, dreht sich mir der Magen um. Alles gleichgespült, alles durchoptimiert, alles seelenlos. Ich habe letztens eine Seite für HSP (Hypersensible Personen) gesehen. Die war so vollgeballert auf einem One-Pager, dass du allein, um ans Ende zu scrollen, 2 Minuten gebraucht hast. Ernsthaft? An die “Zielgruppe” gedacht? No way … Hauptsache irgendwas zusammenklatschen und den “JETZT KAUFEN”-Button prominent genug rein, dann läuft das schon.

Was unseren Bereich angeht, gibt es hoffentlich inzwischen mehr aufgeklärte Leute. Ich hoffe einfach, dass die großen Netzwerke auch da ein Auge drauf haben und intensiver prüfen, wenn etwas gemeldet wird – oder hast du den Eindruck, dass Meta und Co da gut am Start sind?

Annette Schwindt

Meta und Co. waren noch nie so toll, was das Melden angeht, oder? Zum einen stelle ich mir das natürlich aufwändig vor, was Personal und Zeit angeht. Außerdem sind die Regeln in jedem Land anders. Also gehen sie erst mal vom amerikanischen Verständnis von Redefreiheit aus und wundern sich dann, warum man z.B. in Deutschland andere Maßstäbe anlegt. Aber das betrifft ja mehr solche Sachen wie Hate Speech, oder Volksverhetzung, nicht die Coaches, oder? Gegen welche Gemeinschaftsstandards könnte denn ein Coachingangebot verstoßen? 

Aber was Du vorher angesprochen hast von wegen vollgepackten One Pagern und geradezu „shout to action“-Buttons, habe ich gerade heute wieder bei einem  Website-Coach gesehen. Da gab es null Verständnis zur Funktionsweise einer Website und deren technischer Umsetzung, stattdessen Print-Denke auf Online gestülpt und anstelle persönlicher Beratung als Screencast verpackt. Und das dann für teuer Geld als mega fancy Coaching verkauft. Im Prinzip war diesen Screencast zu basteln die einzige kreative Leistung an dem ganzen Coaching, alles andere waren Schubladenlòsungen und zum Teil sogar kontraproduktive Ratschläge.

Früher hab ich mich über sowas aufgeregt. Heute sag ich mir, da will jemand unbedingt die Erfahrung des Schlecht Beraten Werdens machen, dann soll er*sie halt. Danach kommen sie ja doch wieder zu uns und haben hoffentlich was gelernt. Und wenn nicht, dann war die Erfahrung wohl noch nicht hart genug… 

Meistens heißt es „Wenn wer dafür soviel Geld nimmt, dann muss das gut sein“, weil die Leute Wert und Preis nicht voneinander unterscheiden können. Statt dessen können sie den Wert nur nach dem Preis bemessen, nicht nach der Qualität der Beratung. Was glaubst Du, warum das so ist?

Preis und Wert ist nicht dasselbe

Bevor ich zu meinen eigenen Fragen komme, möchte ich noch kurz auf das Thema Preis und Qualität eingehen. Ich glaube, das liegt daran, dass in unserer Konsumgesellschaft oft ein hoher Preis mit Exklusivität und Überlegenheit gleichgesetzt wird. Ein klassischer Trugschluss, den Marketing und Werbung jahrzehntelang offenbar erfolgreich propagiert haben. 😅

Bei Beratungsdienstleistungen wird es noch schwieriger, da Ergebnisse und Nutzen nicht immer sofort sichtbar sind. Viele Menschen messen Qualität am Preis, weil ihnen andere Bewertungskriterien fehlen. Beratung wird oft als etwas Subjektives wahrgenommen – was für Hans funktioniert, muss für Hänschen nicht passen. Ein hoher Preis suggeriert ja meist etwas Besonderes, und niemand will das Gefühl haben, etwas zu verpassen. Das kombiniert mit geschickten Verkaufstechniken und der Illusion schneller Lösungen für komplexe Probleme führt dazu, dass Menschen überzeugt werden, sie bekämen genau das, was sie brauchen, auch wenn es nicht der Realität entspricht. Es ist eine Mischung aus mangelnder Aufklärung, Faszination für einfache Lösungen und der menschlichen Neigung, den Wert einer Sache an ihrem Preis zu messen. Unsere Aufgabe als Online-Marketing-Experten ist es, diese Mythen zu entlarven und ehrliche, wertvolle Dienstleistungen anzubieten, die echten Mehrwert schaffen.

Jetzt aber zu meinen eigenen Fragen und Gedanken, die sich mir im Laufe des Gesprächs gestellt haben:

Zum Thema Style over Substance – wie können wir als die „Neugierigen*“ dafür sorgen, dass echter Inhalt wieder in den Vordergrund rückt? *ich bezeichne mich lieber als neugierig, denn als Experte.

Wie gehst du damit um, wenn Kunden skeptisch sind aufgrund schlechter Erfahrungen? Manchmal fühle ich mich wie ein Therapeut, der versucht, das Vertrauen in gute, ehrliche Beratung wiederherzustellen! 😄

Annette Schwindt

Oh ja, das Gefühl kenne ich! Meist gelingt es mir auch, aber manchmal ist die Angst der Leute vor der Arbeit, die auf sie zukommt, so groß, dass sie doch wieder einem der Blender nachlaufen. Nur dass sie dann danach oder bereits währenddessen auch zu mir kommen und sagen „Ich weiß ja, dass Du nichts davon hältst, aber kannst Du trotzdem nochmal drüber schauen?“ Das heißt, sie wissen schon während sie es tun, dass es Unsinn ist, machen es aber trotzdem… Dazu fällt mir echt nix mehr ein… 

Ich werde deshalb nicht aufhören, in meinen Beratungen an den gesunden Menschenverstand zu appellieren und eigenständiges Mitdenken zu erwarten. Man muss mit mir nicht einer Meinung sein, solange man den eigenen Standpunkt sachlich nachvollziehbar begründen kann. Wenn es aber nur ums Nachmachen und das vermeintliche Patentrezept geht, dann bitte weitergehen. 

Mir hat mal jemand gesagt, die meisten Menschen wollen auf ihre Fragen nur eine Antwort zum nächsten Schritt. Alles andere überfordert sie. Was die Marktschreier wohl sehr konsequent nutzen, indem sie haarkleine Stundenpläne anbieten, an denen man sich entlang hangeln kann. Dass das nur mit Schubladenlösungen machbar ist, ist klar. Wird trotzdem von vielen lieber genommen als einen eigenen Weg zu erarbeiten und den dann auch konsequent zu gehen.

Das Schlimme ist: Das ist ja nicht nur im Beraterberuf so. Wenn Du Dir die politische Lage anschaust, den Umgang mit Klima, Wirtschaft oder Migration – überall wird denen nachgerannt, die einfache, schnelle Lösungen versprechen. Versucht man indessen der Komplexität der Lage gerecht zu werden und die Menschen zum Mitdenken aufzufordern, sehen wir ja gerade, wo wir landen. Da kann man nicht mehr sagen „die wollen diese Erfahrung machen“, denn sie überblicken ja offenbar gar nicht, worauf sie sich einlassen. Was können wir also tun?

Sehnsucht nach einfachen Antworten

Annette, Du triffst den Nagel auf den Kopf. Die Parallelen zwischen den Marktschreiern in unserer Branche und der politischen Landschaft sind frappierend. In beiden Fällen scheint es eine Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen zu geben. Menschen sind oft überwältigt von der Komplexität der Welt und suchen nach klaren, einfachen Lösungen, was Populisten und Blender gleichermaßen ausnutzen.

In der Politik sehen wir das in der wachsenden Beliebtheit von Figuren wie Trump in den USA oder Le Pen in Frankreich (von der Bedrohung im eigenen Land mal ganz zu schweigen!), die einfache, aber unrealistische Lösungen für komplexe Probleme anbieten. Sie nutzen die Unzufriedenheit und Ängste der Menschen, um Unterstützung für ihre populistischen Agenden zu gewinnen. Ähnlich wie die Online-Blender, die schnellen Reichtum versprechen, bieten diese politischen Akteure schnelle Lösungen an, die oft nicht nachhaltig oder realistisch sind.

Als “Experten” (höhö) für Online-Marketing und Kommunikation liegt es an uns, die Wahrheit zu verbreiten und Bildung anzubieten. Wir müssen die Menschen darin bestärken, kritisch zu denken und sich nicht von Hochglanzversprechen blenden zu lassen. Das gilt sowohl für das Online-Marketing als auch für politische und gesellschaftliche Fragen. Wir müssen eine Kultur des kritischen Denkens fördern, in der Menschen ermutigt werden, Fragen zu stellen, Informationen zu hinterfragen und über die Oberfläche hinauszublicken.

Die Herausforderung liegt darin, dass diese Herangehensweise Zeit und Mühe erfordert – etwas, das in unserer schnelllebigen Welt oft Mangelware ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt. Egal ob im Bereich Online-Marketing oder in der politischen Bildung, unser Ziel sollte es sein, Menschen zu befähigen, informierte Entscheidungen zu treffen, anstatt blind irgendwelchen Blendern oder Populisten zu folgen.

Annette Schwindt

Das ist das perfekte Schlusswort! Ich danke Dir noch einmal für diesen Austausch!

Über meinen Gesprächspartner

Sebastian Freitag
Sebastian Freitag
  • Jahrgang 75
  • Projektmanager, Strategieentwickler und Konzeptioner 
  • CDO und Mitgründer der Agentur VON DER SEE GmbH in Emden
  • seit 1998 im Marketing tätig
  • Kommunikationskaufmann, Ausbilder und gelegentlicher Referent zum Thema Digitalisierung
  • von-der-see.de 

Foto von Sebastian: privat
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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