Gleich mehrere spannende Themen sind uns eingefallen, als mein heutiger Dialogpartner und ich über ein Bloggespräch nachdachten. Feuer und Flamme waren wir dann beide, als es um den berühmten TED-Talk von Sir Ken Robinson ging: „Do schools kill creativity?“ ist eines der meistgesehenen Videos dieser Reihe. Darin zeigt der leider viel zu früh verstorbene Autor, wie und warum sich unser Schulsystem verändern muss.
Lieber Helge, ich freue mich sehr, dass Du Dir dieses Thema ausgesucht hast! In meinen Bloggesprächen ist es schon öfter angerissen worden (s. Gespräche mit Meike und mit Christoph), war aber noch nie das eigentliche Thema. Wie bist Du darauf gekommen und was ist es, das Dir dabei so wichtig ist?
Aus der Seele gesprochen
Zunächst von Herzen Dank für die Einladung zu diesem Gespräch, liebe Annette. Auch meine Freude ist groß, dass wir uns nun über diesen TED-Talk von Sir Ken Robinson unterhalten. Ich dachte ja schon, ich wäre der einzige, der darin mehr sieht, als einen guten Vortrag. Doch der Reihe nach.
Wie ich auf den Talk aufmerksam wurde, weiß ich gar nicht mehr. In jedem Fall hat mir Robinson vom ersten bis zum letzten Wort ganz tief aus der Seele gesprochen. Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.
Bereits in der ersten Klasse gab es dazu ein Schlüsselerlebnis, als meine Klassenlehrerin Frau Grunewald (nie werde ich diesen Namen vergessen) mich vor der versammelten Klasse darauf hingewiesen hat, dass ich ja wohl eine “Mädchenschrift” habe und dass ich das unbedingt ändern solle. Als “Vorbild” zeigte sie mir das vollkommen unleserliche Gekritzel meines Mitschülers Johannes.
Erst viele Jahre später wurde mir bewusst, wie tief sie meine Kinderseele damit verletzt hat. Und es sollte erst der Anfang einer für mich wirklich leidensvollen Schulzeit sein. Die vielen Geschichten würden den Rahmen hier sprengen. Sie sind auch gar nicht so wichtig. Zusammengefasst kann ich heute sagen, dass kein*e Lehrer*in sich jemals für mich als Individuum und schon gar nicht für meine wahren Talente interessiert hat. Sie haben mir stattdessen permanent das Gefühl vermittelt, dass ich nicht in ihr System passe.
In der Folge habe ich dann auch die erste Hälfte meines Berufslebens in diesem “System” und damit in den vermutlich langweiligsten Jobs verbracht, die mensch sich vorstellen kann. Irgendwie dachte ich aber tatsächlich sehr lange, ich könnte nichts anderes. Meine kreative Seite habe ich dann erst (viel zu) spät und mehr durch Zufall entdeckt.
Langer Rede, kurzer Sinn: Ich bin zutiefst überzeugt, dass unsere Welt eine wesentlich bessere wäre, wenn jede*r von uns seine bzw. ihre ureigensten Talente erkennen, ausleben und in die Gemeinschaft einbringen könnte. Solange wir uns immer noch bis zur Unkenntlichkeit verbiegen müssen, um in ein System zu passen, das in seinen Grundzügen während der Industrialisierung des vorletzten Jahrhunderts entstanden ist, werden wir als Menschheit scheitern. Deshalb ist dieser TED-Talk für mich so unfassbar wichtig.
Nun aber zu dir, liebe Annette. Was macht den Talk von Sir Ken Robinson denn für dich so wertvoll? Steckt da auch eine persönliche Geschichte dahinter? Oder schaust du da aus einer ganz anderen Perspektive darauf?
Förderung von Talenten
Als ich vor Jahren auf den Talk aufmerksam wurde, haben mich sowohl der Inhalt als auch die Art des Vortrags sofort fasziniert. Dieser trockene britische Humor und die vielen anschaulichen Anekdoten sind genau mein Ding. Ich zitiere sie gern und oft.
Inhaltlich, weil ich selbst mal Lehrer werden wollte, aber mit dem Ausbildungs-System nicht einverstanden war (und heute echt froh bin, dass ich mich für einen anderen Abschluss entschieden habe). Und natürlich hatte ich auch traumatische Erlebnisse in der Schule und Uni, die meist mit den betreffenden Lehrenden zu tun hatten. Einige meiner besonderen Talente wurden zum Glück schon früh entdeckt und ich bekam entsprechende private Förderung außerhalb der Grundschule. Da ging es zunächst um Musik und Kunst. Später dann entdeckte ich mein Talent für Sprachen und belegte eine zusätzliche Sprache als AG. Dabei fällt mir jetzt erst auf, dass alle Talentförderungen immer außerhalb des eigentlichen Unterrichts organisiert waren…
Innerhalb des Unterrichts fiel man damit eher unangenehm auf. Besonders krass ist mir das mit meinem Französischlehrer in Erinnerung. Der war fachlich super, menschlich leider – vermutlich aus Frust im Job – weniger genießbar. Er erkannte meine Sprachbegabung und empfahl mir einen Austausch. Als ich von dort zurückkam, sprach ich Französisch wie man es eben spricht. Das, was man in der Schule benutzt, ist ja die Schriftversion. So redet aber kein Mensch. Als ich also im Unterricht das echte Französisch benutzte, nahm mich mein Lehrer gleich beiseite und sagte, das sei ja unglaublich toll, wie schnell ich das gelernt hätte, aber im Unterricht müsse ich bitte wieder wie im Buch geschrieben sprechen, das sei nunmal das Lernziel. Beim Französisch-Studium an der Uni hab ich es dann komplett verlernt, weil plötzlich alles auf Deutsch stattfand! Hätte ich nicht den Kontakt zu meinen französischen Freunden gehalten, wäre alles wieder verloren gegangen.
Etwas, das mir deutlich geschadet hat, ist die Tatsache, dass in der Schule überhaupt kein Bewusstsein für andere Arten des „Verdrahtetseins“ bestand. Nach vielen traumatischen Erlebnissen, nicht nur in der Schule und Uni, sondern auch beim Einstieg ins Berufsleben, musste ich erst Anfang 40 werden, um selbst herauszufinden, dass ich einfach nie so wie die anderen ticken konnte. Und eigentlich hätte das jemandem auffallen müssen. Wenn ich so zurückblicke, wäre mir viel erspart geblieben, wenn mir damals schon jemand erklärt hätte, dass ich als Mensch aus dem Autismus-Spektrum, noch dazu mit besonderen Begabungen, die Welt eben ganz anders erlebe als die meisten. Stattdessen wurde mir vermittelt, dass mit mir was falsch sei. Ich wurde entweder nicht für voll genommen, oder ausgenutzt. Beim Einstieg ins Berufsleben ist das dann vollends eskaliert. Das sitzt bis heute tief.
Wie und wann hast Du von Deinen Talenten erfahren?
Kreativität und das „System“
Puh. Deine Erlebnisse berühren mich sehr und bestätigen alles, was ich an unserem (preußischen) Bildungssystem bis heute kritisiere. Alles Individuelle und alles Außer-Gewöhnliche muss unterdrückt und an die Norm angepasst werden, damit die frischen “Produktionsfaktoren” nach Ende ihrer Schulzeit reibungslos funktionieren und vor allem keinen “Ärger” machen. Erinnert mich sehr an die Choreografin aus Robinsons Talk, die zum Glück an den richtigen Arzt geriet und tanzen lernen durfte.
Wie ich von meinen Talenten erfahren habe, ist eine gute Frage. Auf jeden Fall auch nicht in der Schule. Dort war ich immer nur der faule Querulant und Störenfried. Und ich bin mir sicher, dass viele meiner Talenten bis heute unerkannt sind. Nicht zuletzt auch, weil sie permanent unterdrückt werden von dem Zwang, in unserer kapitalistisch geprägten Welt zu funktionieren, sprich Geld zu verdienen.
Ok. Meine Talente. Wo fange ich an? Mein Talent zum Schauspielern wurde mir wohl in die Wiege gelegt und auch recht früh von meinem Vater gefördert. Durch ihn habe ich schon mit 12 Jahren meine erste Theaterluft geschnuppert und sofort lieben gelernt. Anfangs hinter den Kulissen als Beleuchter, später dann in diversen Rollen auf den berühmten Brettern. Dass daraus kein Beruf wurde, lag vermutlich auch an meinem Vater, der mir ja irgendwie vorlebte, dass Kunst nur ein Hobby sein kann. Von Applaus allein kann in unserer Welt eben niemand leben.
Immerhin konnte ich diese Begabung und Erfahrung später nutzen und damit als Kommunikationstrainer dann doch Geld verdienen. Erinnere mich noch sehr gut, wie ich mit Ende 30 auf der “Bühne” irgendeines Hotels stand, meine Teilnehmenden anschaute und dachte: “Jetzt steh ich hier vor Menschen und versuche, sie mit meinen Geschichten zu unterhalten und ihnen etwas mitzugeben. Ist schon ein bisschen wie Theater”. Nicht zuletzt diese Perspektive hat mich diesen Beruf dann eine Zeit mit Freude machen lassen.
Mein kreatives Talent im Sinne auch meines heutigen Berufes, habe ich dann eher durch Zufall entdeckt. Es muss so 2006/07 gewesen sein, als ich mir einen dieser inzwischen bezahlbaren Camcorder zulegte. Eigentlich nur, um Urlaubsvideos von meinen Kindern zu machen. Als ich aber merkte, wie viel ich mit iMovie daraus “basteln” konnte, habe ich das Ding auch im Kontext meiner Arbeit genutzt. Ich fuhr auf Konferenzen, hab Interviews geführt, kleine Dokus daraus geschnitten und sie auf YouTube geladen. Das wiederum führte zu Business-Aufträgen. Und plötzlich war ich Filmemacher und sehr stolz darauf.
In dieser Phase hab ich mich dann auch wieder an meinen einzigen Berufswunsch erinnert, den ich als Heranwachsender hatte. Ich wollte Kameramann werden und habe diesen Weg nur deshalb nicht eingeschlagen, weil mir ein Bekannter meines Vaters, der damals Chef-Fotograf beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart war, einen unendlich langen und zähen Ausbildungsweg mit am Ende sehr schlechten Chancen auf wirklich kreative Filmarbeit prophezeite. Tja.
Aber wie heißt es so schön: Wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Etwa 31 Jahre nach besagtem Beratungs- oder besser “Abratungsgespräch” auf dem Stuttgarter Killesberg, hat mir das eher zufällige Entdecken meines Talentes und das autodidaktische Erlernen des Filmemachens, dann 2011 den Job in einer Agentur ermöglicht, in der ich inzwischen zum Kreativdirektor reifen durfte. Nicht nur die Filme, klar. Aber “Bewegtbild” in Verbindung mit SocialMedia waren Anfang der 10er Jahre in der Eventbranche tatsächlich sehr gefragt und somit meine Eintrittskarte.
Rückblickend wird klar, dass mein kreatives Talent erst mit fast 50 Jahren endlich in ein “System” gepasst hat, wo es bis heute für mich und unsere Kund*innen wertschöpfend wirkt.
Wie und wo nutzt du deine Talente heute?
Es bei anderen besser machen
Das ist krass, wenn man so essentielle Aspekte von sich selbst erst so spät entdeckt. Das war bei mir mit Struktur und Vorausdenken so. Dann sitzt man da und fragt sich, warum das keiner früher gesehen hat oder wenn doch, warum keiner was gesagt hat. Das Beste, was man tun kann, ist nach vorn zu blicken und es bei anderen besser zu machen. Ich versuche das zumindest…
Ich nutze meine Talente eigentlich ständig, da sie zum Großteil organisatorischer und kommunikativer Natur sind. Bei meinen Tätigkeiten mit anderen (ich versuche bewusst den Begriff Arbeit zu vermeiden, da er falsche Assoziationen weckt, aber das ist ein anderes Thema) kommen sie mir besonders zugute, solange das eins zu eins stattfindet, oder mir die Führung überlassen wird. Unter Führung anderer kann ich nur tätig sein, wenn sie ähnlich wie ich ticken oder mit meinem Verdrahtetsein zum Vorteil der Sache umzugehen wissen. Und mit Führung meine ich nicht die klassische Hierarchie, sondern das Vorangehen auf Augenhöhe.
Als Wegbegleiterin in Sachen digitaler Kommunikation ist mein Talent zu erklären und zu strukturieren von Vorteil. Mein Sprachtalent hilft mir nicht nur mit Fremdsprachigem, sondern auch bei HTML und CSS, der Sprache von Websites, und natürlich beim Lektorat und Schreiben. Das schnelle Denken hilft ungemein, wenn eine Lösung für etwas gefunden oder etwas schnell erledigt werden muss. Das bildliche Denken hilft ebenfalls beim Erklären.
Interessanterweise habe ich die passenden Tätigkeiten für mich gefunden, ohne mir lange Zeit dieser Talente so genau bewusst gewesen zu sein. Erst als ich mich über den Erfolg in meiner Zeit als schwindt-pr wunderte (immerhin gab es genug andere Blogs wie meinen) und mal ein paar Kollegen fragte, was sie als meine Talente ansehen, habe ich es begriffen. Gleichzeitig war es schlimm, zu erkennen, dass das wohl früher schon einige gesehen, es mir aber nicht so gesagt hatten, dass ich es hätte verstehen können. Stattdessen wurde über mich gelacht oder behauptet, ich sei abgedreht oder arrogant.
Darum versuche ich jetzt, es anderen zu sagen, wenn ich besondere Talente bei ihnen sehe. Vor allem, wenn es junge Menschen sind. Und ich blogge über meine Erfahrungen oder führe Gespräche wie dieses. Vielleicht hilft das dem ein oder anderen, wer weiß… Und ich empfehle den Talk von Sir Ken Robinson oft weiter.
Welche Konsequenzen hast Du aus Deiner Geschichte in Sachen Talente gezogen?
Muss man einen Plan haben?
Das ist eine gute und gleichzeitig sehr komplexe Frage. Im Prinzip habe ich es in der Konsequenz meines Lebenslaufs ganz ähnlich erlebt wie du, indem ich nämlich viele Dinge einfach intuitiv getan habe, ohne meine Talente zu kennen oder gar bewusst einzusetzen. Wobei ich bis heute gar nicht so genau sagen könnte, was meine Talente im einzelnen genau sind. Ich meine, ist “Kreativität” ein Talent? Oder “Filmemachen”? Oder “Zusammenhänge erkennen und in Worte fassen”?
Mein beruflicher Weg war in jedem Fall eher “long and winding”, um Paul McCartney zu zitieren. Ich denke, das lag auch zu einem großen Teil an meiner Trägheit, im Zweifel dann doch den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Ich habe mich gefühlt immer eher von sich bietenden Gelegenheiten treiben oder besser mitnehmen lassen, anstatt den nächsten Schritt selbst zu bestimmen. So war ich schon kaufmännischer Azubi und später Angestellter bei einer Versicherung, ein Jahr lang Kellner und ganz kurz sogar Immobilienverkäufer, kam dann als Quereinsteiger ins Marketing, danach in den Vertrieb, hab eine Amateur-Musicalgesellschaft mit gegründet, stand fast zehn Jahre als Frank N’ Furter auf der Bühne, war neun Jahre selbständig als Trainer, Coach, Filmemacher und Socialmedia-Berater, hab mit einem Freund einen Verein für mehr Selbständige in Deutschland gegründet (ist gefloppt, war aber immerhin Titelstory in der brand eins) und heute bin ich Kreativdirektor in einer Agentur. Was eine ver-rückte Reise.
Wie auch immer. Ich denke, mein jetziger Job ist schon sehr nah dran, an dem, was ich wirklich gut kann. Was das genau ist, konnte mir allerdings noch immer niemand sagen. Wenn ich meine Kolleg*innen frage, dann höre ich meistens “Du kannst halt gut reden und hast immer so viele Ideen”, aber das klingt für mich irgendwie nicht nur positiv. Eher so, als fände man mich schon ein wenig schräg, möchte es aber nett umschreiben. Und ja, Selbstzweifel ist mein zweiter Vorname. Zumindest da bin ich mir ganz sicher.
Apropos. Vor kurzem bin ich über eine Aussage von Teddy Teclebrhan gestolpert, in seinem Interview bei Kurt Krömer: “Ich sitz manchmal da und denk so, ey, wenn die jetzt merken, dass ich gar kein Plan habe – ganz oft! Ich hab keinen Plan, was ich hier mache. Dann stellt mir irgendjemand ne Frage und dann antworte ich, und dann … oh krass, hat funktioniert. Schon zehn Jahre rum.” Bäm! Die Aussage könnte eins zu eins von mir sein und beschreibt mein aktuelles Selbstbild ziemlich gut.
Was noch kommt? Keine Ahnung. Es gibt Tage, da denke ich, es muss doch etwas geben, was ich noch besser kann und wo ich vor allem noch mehr Sinnhaftes bewirken kann. Und dann gibt es Tage, da denke ich, lass gut sein. Du hast viel Glück gehabt und finally einen Job, der schon sehr gut zu dir passt. Außerdem bist du nicht mehr der Jüngste und Arbeit ist nicht alles. Also genieß dein Leben und mach dir nicht mehr so viele Gedanken. Klingt leichter, als es ist.
Aber sag mal, Annette, wie bekommen wir denn eigentlich die Kurve zurück zu Sir Ken Robinson? Was können wir denn aus deiner Sicht ganz konkret tun, damit sich das Schulsystem ändert und die Talente künftiger Generationen erkannt und gefördert werden?
Sein Element finden
Tja, gute Frage! Dazu hat er – wie ich gerade auf Deine Frage hin festgestellt habe, noch ein Buch geschrieben. Ich hatte bereits „The Element. How finding your passion changes everything“ gelesen, das im Prinzip eine ausführliche Version des TED-Talks ist. Darin geht es darum, in seinem Element zu sein, wenn man sein(e) Talent(e) gefunden hat. Mit dem Folgeband „Finding your element“ stellt er den Leser*innen die passenden Fragen, um sie dazu zu bringen ihr Element zu finden. Von diesem Buch hatte ich noch gar nicht gewusst und habe es mir gleich gekauft. Es gibt auch ein gleichnamiges YouTube-Video.
Darin erklärt er, warum es nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Gesellschaft, ja sogar für die Wirtschaft wichtig ist, dass wir etwas tun, das wir gerne tun. Und dass der Weg um herauszufinden, was das ist, nicht planbar, sondern organisch ist. Wenn man offen für Diversität bleibt, offen dafür, neue Wege zu gehen, dann ergibt ein Schritt den nächsten. Dabei ist es wichtig, Menschen zu haben, die einen darin bestärken und vielleicht sogar inspirieren oder Türen öffnen. Und dass es eben mehr gibt als das, was der derzeitige Lehrplan als erstrebenswert postuliert (der obendrein noch aus einer völlig veralteten Form von Gesellschaft stammt).
In Finnland und manchen privaten Schulen weltweit wurde ja schon der Schritt weg von Fächern hin zu Themen gegangen, bei denen die Schüler*innen dann auch jahrgangsübergreifend miteinander tätig werden. Nehmen wir z.B. als Projekt einen Garten. Dabei können allgemeine Kenntnisse erlangt werden, wie der Kreislauf der Natur funktioniert, Photosynthese etc. Aber es können auch spezielle Talente entdeckt werden, wie das Planen und Anlegen eines Gartens, die praktische Gartenarbeit, das Aufziehen der Pflanzen, das Beobachten der Fauna und Flora, die Verarbeitung der Ernte, die Umsetzung des Projekts in Sprache, Kunst, Literatur etc. All das aber nicht theoretisch aus Büchern, sondern ganz praktisch als eigene Erfahrung innerhalb eines sinnvollen Projekts. Dabei wird auch das Zusammenarbeiten, sich gegenseitig ergänzen und unterstützen gelernt und wie die einzelnen Teile einander bedingen. Und jede*r Heranwachsende kann entdecken, welche Facette ihm*ihr am meisten zusagt.
Denn Lernen – wie Christoph in unserem damaligen Bloggespräch richtig angemerkt hat – bedeutet nicht, Wissen anfallsweise in sich reinzustopfen, um es dann zu einer Prüfung bulimisch auszukotzen, und nach der Schule nie wieder etwas lernen zu müssen. Vielmehr lernen wir ständig dazu, unser Leben lang, mit jeder Erfahrung, die wir machen. Und auch ob wir uns dessen bewusst sind, oder nicht.
Die Gesellschaft muss weg vom Leistungs- und Effizienzgedanken hin zu dem, was Robinson mit Happiness umschreibt. (In manchen Ländern wie Bhutan wird das auch im „Bruttoinlandsglück“ gemessen!) Im Deutschen gibt es zu „Happiness“ eigentlich kein Äquivalent. Zufriedenheit ist zu leise, Glück ist schon zu laut. Wie Robinson sagt, geht es nicht darum, die ganze Zeit supergut drauf zu sein, sondern sich wohl zu fühlen. Dass man nicht jeden Morgen aufwacht und es einem davor graut, was an dem Tag anliegt. Und dass der Weg dorthin sowohl eine Reise zu sich selbst als auch eine Reise in die Welt ist, im Sinne einer „quest“, also einer Suche. Und dass wir die Gestaltung dieser Reise selbst bestimmen, indem wir entscheiden, wofür wir unsere Kraft aufwenden.
Mich hat auch dieser Talk sehr gerührt, da Vieles davon genau dem entspricht, wie mein Mann und ich zu leben versuchen. Es hat auch starke Parallelen zu dem, wie ich digitale Kommunikation zu vermitteln versuche. Man kann es nicht planen, sondern es ergibt sich Schritt für Schritt organisch.
Kanntest Du diesen zweiten Talk schon und was macht er mit Dir?
Sich selbst tiefer kennenlernen
Wow. Deine Antwort ist, wie ich finde, ein perfekter Schlusspunkt unseres (für mich) sehr inspirierenden Austauschs. Weil er gleichzeitig eine Anleitung für jede*n Einzelne*n ist, sich tiefer mit dem Thema und vor allem mit sich selbst zu beschäftigen. Genau das werde ich jetzt auch tun, denn ich kannte weder den zweiten Talk von Sir Ken Robinson noch seine Bücher. Das werde ich jetzt nachholen und mir damit im (ja wohl unvermeidbaren) nächsten Lockdown über den Jahreswechsel ausreichend Zeit nehmen.
Ich möchte dir von Herzen danken, liebe Annette. Für die Einladung zu diesem Bloggespräch und das damit verbundene Aktivieren meiner Gedanken ebenso wie vor allem für deine so wertvollen Worte und Anregungen. Es war mir ein einziges Vergnügen in diesen ansonsten doch eher trost- und hoffnungslosen Zeiten und ich hoffe, wir können unser Gespräch bei Gelegenheit persönlich fortsetzen und uns dann auch endlich “in echt” kennenlernen.
Sehr gern, lieber Helge! Mir hat dieser (längst überfällige) Austausch auch viel Freude gemacht! Und ja, bis hoffentlich ganz bald! 🙂
Über meinen Gesprächspartner
Helge Thomas wurde 1964 in Heidelberg geboren und hat nie studiert. Weil er keine Bedienungsanleitungen mag. Er probiert die Dinge lieber direkt aus. Seit 2011 tut er das bei der Kommunikationsagentur ottomisu. Seit 2013 als Creative Director. Darüber hinaus ist er seit letztem Jahr glücklicher Besitzer eines Schrebergartens.
Foto von Helge: Sergej Falk
Avatar von Annette: tutticonfetti
In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.
Dies ist mein persönliches Blog, auf dem ich alle meine vorherigen Websites zusammengefasst habe. Daher die buntegemischten Themen: Ich führe Bloggespräche und blogge über Persönliches, Digitales und Kulturelles. Ich liebe es, Menschen zu fotografieren und mich mit Kunst zu beschäftigen. Manchmal schreibe ich auch noch was anderes als Blogbeiträge. Für andere bin ich als Wegbegleiterin in Sachen Kommunikation aktiv. Vor allem bin ich aber eins: Ein Mensch!