Durch die Pandemie mussten sich Kulturbetriebe neue Wege ausdenken, ihre Veranstaltungen durchzuführen. Welche Lehren können aus dieser Zeit gezogen werden? Wie wird es in Zukunft weitergehen? Alles wieder auf Anfang, oder gibt es alternative Formate, die es beizubehalten lohnt? Was sind überhaupt die richtigen Orte für Kultur? Meine heutige Gesprächspartnerin hat damit einige Erfahrungen gemacht:
Liebe Ulrike, das ist ein wirklich spannendes Thema! Als ehemalige PR-Referentin eines Kulturveranstalters und eines Gitarristen kann ich davon auch das ein oder andere Lied singen, auch wenn es bei uns meist nur organisatorische Gründe hatte, wenn wir den Veranstaltungsort wechseln mussten. Die größten Krisen waren die Verschiebung einer Festivaleröffnung wegen des 11. Septembers 2001 und Ärger mit dem örtlichen Bistum weil „Die Päpstin“ aufgeführt werden sollte. Aber dass es über Monate gar keine Präsenzveranstaltungen geben durfte, das betraf mich nur als potentiellen Zuschauer/-hörer. Wie hast Du diesen Einschnitt erlebt?
Sind fest definierte Orte für Kultur nötig?
Liebe Annette, erst einmal herzlichen Dank für die Einladung in dieses schöne Format. Wie habe ich diesen Einschnitt erlebt? Die konkrete Situation der letzten analogen Veranstaltung und der darauf folgenden Schließung Mitte März letzten Jahres habe ich aus der Ferne erlebt. Ich war seit Ende Februar in einer schon länger geplanten, mehrwöchigen Auszeit und die Vorstellung, dass ich in eine ganz andere Welt zurückkommen würde, war absolut surreal. Ich konnte mir erst überhaupt nicht vorstellen, wie es weitergehen würde und meinen Kollegen und unserem Chef ging es ähnlich.
Als ich Anfang April wieder zurück war und wir alle den ersten Schreck überwunden hatten, war klar – wir können nicht nichts tun! Die Schließung unseres Hauses war ein erheblicher Einschnitt, aber wir haben sie nicht als das Ende unserer Möglichkeiten empfunden. Natürlich sind wir erst mal alle in Kurzarbeit gegangen, haben aber ziemlich schnell und intensiv mit Überlegungen begonnen, was wir im damals äußerst eingeschränkten Rahmen tun könnten.
Durch die sehr strengen und auf unabsehbare Zeit geltenden Regeln bezüglich Treffen im öffentlichen Raum – es war ja quasi nichts möglich – stellte sich für uns noch vor der inhaltlichen Frage die Frage nach der Abhängigkeit der Kultur von bestimmten Orten. Wie wichtig sind ausgewiesene Orte für Kultur überhaupt? Und was passiert, wenn die klassischen Orte nicht nutzbar sind? Entsteht ein Kulturort überall und einfach aus der Begegnung zwischen Interessierten und Künstler*innen? Wir als Kulturschaffende und besonders auch das Publikum waren jahrzehntelang an feste Orte für Kultur gewöhnt, aber welche Rolle spielen fest definierte Orte für Kultur wirklich? Was meinst Du?
Barrieren abbauen
Einerseits sind Theater, Konzert- und Opernhäuser natürlich wunderbare Orte mit einer ganz eigenen Atmosphäre. Dennoch bedeuten sie für manche Rezipienten in vielerlei Hinsicht auch Barrieren. Zum einen soziale, indem sie vermeintlich nur was für die „gebildeten Leute“ sind, definitiv aber für die, die es sich finanziell überhaupt leisten können, den Eintritt zu bezahlen. Dann auch was die bauliche Zugänglichkeit betrifft und hinsichtlich Hilfen wie Gebärden oder Untertiteln und Audiodeskription.
Für Menschen wie mich sind die üblichen Kulturorte schwierig, weil sie in der Regel Reizüberflutung bedeuten. Viele Menschen auf einmal in ungewohnter Umgebung ohne Rückzugsmöglichkeit, keine Möglichkeit, Licht, Lautstärke und andere Reize zu minimieren, und vieles mehr. Deshalb habe ich mich auch vor der Pandemie immer schon gefreut, wenn Veranstaltungen live gestreamt, oder wenigstens als Aufzeichnung für mich zuhause verfügbar gemacht wurden. Ansonsten konnte ich nur sehr dosiert in nicht zu großen Häusern vor Ort teilnehmen.
Als Veranstalter möchte man natürlich möglichst volles Haus, also möglichst viele Tickets verkaufen. Das lässt sich am einfachsten an festen Orten organisieren. Wie man dann dort die Begegnung zwischen Kulturschaffenden und Publikum gestaltet, ist ja wieder eine andere Frage. Und viele Events basieren ja nicht nur auf dem Renommé der Kulturschaffenden, sondern auch des Hauses selbst.
Wie war das denn bei Euch vor der Pandemie?
Mit Kultur zu den Menschen gehen
Vor der Pandemie war unsere analoge Bühne ganz klassisch unser zentraler Ort. Ohne in unsere Statistik zu schauen, würde ich schätzen, dass wir mindestens 80% unseres Programms oder vielleicht sogar mehr dort gespielt haben. Die Atmosphäre, die Du nennst, ist dabei ein wichtiger Faktor, denn viele Theaterstücke, Performances und auch Konzerte leben von dem Gesamterlebnis, zu dem auch der Bühnenraum sowie professionelle Sound- und Lichtkonzepte gehören.
Wir haben kein festes Ensemble und programmieren überwiegend Künstler*innen der Freien Theater- und Tanzszene und auch Musiker*innen aus der Region, die genau diese Zusammenarbeit auf professioneller Basis schätzen und für die wir mit unserer fest verorteten Bühne auch ein künstlerisches Zuhause sind. Seit März letzten Jahres ist diese Zusammenarbeit natürlich nur sehr eingeschränkt möglich, aber wir hoffen, dass sich das bald wieder ändert, denn eine so enge und langfristige Bindung braucht einen festen Ort.
Das gilt auch für das Publikum. Einerseits haben wir Menschen, die immer wieder zu uns kommen, weil sie den Ort kennen andererseits steht unser Name “Brotfabrik”, nach inzwischen 35 Jahren in eben einer ehemaligen Brotfabrik, für Freie Kultur in Bonn, auch bei denen, die noch nie bei uns waren.
Stichwort “die noch nie bei uns waren” – warum Menschen nicht zu Kulturorten kommen, kann viele Gründe haben. Du sprichst die Barrierefreiheit an, ein Punkt, der auch uns mit unserem soziokulturellen Selbstverständnis besonders wichtig ist. Schon vor der Pandemie sind wir daher mit einigen Programmen zu den Menschen gegangen, z. B. mit Kindertheater in Stadtteilzentren oder mit Alter Musik in Kirchen, und haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Diese Erfahrungen haben uns besonders zu Beginn der Pandemie sehr geholfen und waren Basis für unsere Überlegungen und unser Tun in den letzten 1,5 Jahren.
In dieser Zeit haben viele Kulturschaffende aus der Schließung ihrer traditionellen Spielorte heraus alternative Konzepte, Formate, Orte und Ausspielwege entwickelt oder für sich erschlossen. Wenn diese beibehalten werden und nicht nur als kulturelle Grundversorgung während der Pandemie gesehen und wieder eingestellt werden, könnte eine vielfältigere Kulturlandschaft entstehen. Für Dich aus Zuschauersicht wäre das ein vorstellbares bzw. wünschenswertes Szenario, oder gibt es ein Zurück zum alten Normal?
Neue Formate beibehalten
Ja, das Beibehalten neuer Orte und Formate wünsche ich mir tatsächlich. Und mehr Livestreams/Aufzeichnungen! Man hat ja gesehen, dass dabei teilweise ein Vielfaches an Zuschauern zusammen kam. Am besten fand ich die Streamingformate, die interaktiv waren, wo also die Künstler live mit den Zuschauern ins Gespräch gekommen sind.
Toll sind natürlich auch Open Air Veranstaltungen, aber das geht hierzulande ja nur begrenzt. In Finnland haben wir da mal eine sehr eindrückliche Aufführung von Romeo und Julia erlebt, bei der die Zuschauer am Tor eines Gebäudes warten mussten – wir dachten, wir warten auf den Einlass. Statt dessen brach flashmobartig unter uns der Einstiegskampf aus, allerdings modern und mit gerappten Texten. Da öffnete sich das Tor und man folgte den Kämpfenden in einen großen Innenhof, wo man sich hinsetzen und den Rest des Stücks mitverfolgen konnte. Grandios!
Ansonsten mag ich am liebsten eher kleine, familiäre Formate, bei denen man die Künstler nicht einfach irgendwo entfernt auf der Bühne sieht, sondern mit ihnen zusammen im Raum sitzt. Am besten an alten Orten mit Geschichte, wie in alten Theatern, Kirchen, Ruinen oder Kultplätzen.
Was bei Euch in der Brotfabrik natürlich toll ist, ist das Miteinander all der verschiedenen Kulturschaffenden über den ganzen Komplex verteilt plus Kulturkneipe, die – wie bei der Jazzbäckerei – auch manchmal selbst zum Veranstaltungsraum wird, so dass man dabei oder danach noch essen und trinken kann.
Soweit ich das mitbekommen habe, waren ja gerade die Onlineformate anfangs für viele nicht nur technisch ein Problem, sondern v.a. auch wegen der Bezahlmodelle. Habt Ihr Euch da mit anderen ausgetauscht? Wie habt Ihr das gelöst und was habt Ihr dabei gelernt? Wird etwas davon bleiben?
Digitale Bühne aufbauen
Mit unseren Onlineformaten haben wir, zu unserer eigenen Überraschung, rundum positive Erfahrungen gemacht. Die zweiten Schließungen ab November letzten Jahres haben wir im ersten Moment viel schlimmer empfunden, als die im März. Outdoor im deutschen Winter ist ja keine Option, was also tun? Da ich sehr netzaffin bin und meine Kollegen inzwischen auch durchaus offen gegenüber digitalen Themen sind, war schnell die Idee einer digitalen kulturellen Grundversorgung geboren. Kern dieser Idee war zunächst die Videoreihe “My Factory”, in der wir Künstlerinnen und Künstler eingeladen haben, uns ihre Geschichten rund um unsere Bühne zu erzählen.
Angepeppt durch den großen Spaß, den wir an dieser Reihe hatten und durch Berichte eines befreundeten Kulturzentrums, das gute Erfahrungen mit dem Livestreaming seiner Konzerte hatte, wollten wir das auch probieren. Unser uralter, unbelebter YouTube Kanal hatte eine einstellige Abonnent*innenzahl und wir alle keine praktische Vorerfahrung im Livestreaming, aber hey, einfach mal machen… Wir haben überlegt, welche analogen Formate wir auf welche Weise in digitale überführen könnten. Entschieden haben uns zunächst für “Kunst gegen Bares” (KgB), das “BUSCival” der Bonn University Shakespeare Company und Konzerte. KgB und BUSCival sind Formate mit kurzen künstlerischen Beiträgen und Zwischenmoderation. Beide wurden im Stream live moderiert und es gab vorab aufgezeichnete Einspieler.
Gemäß unserer Idee der digitalen kulturellen Grundversorgung haben wir uns gegen eine Bezahlschranke entschieden und um Spenden gebeten. Das hat ziemlich gut funktioniert, unserer Erfahrung nach war die Spendenbereitschaft digital größer, als bei analogen Veranstaltungen, die wir auf Spendenbasis angeboten hatten.
Die technischen Herausforderungen, die Du oben ansprichst, haben wir alle selbst gelöst. Wir haben geschaut, was können wir schon und wie können wir unsere Kompetenzen ins Digitale übertragen? Unser Bühnenmeister hat sich mit großer Leidenschaft in Kamera- und Streamingtechnik eingearbeitet und gemeinsam mit unserem Veranstaltungstechniker Bühnenräume und Lichtkonzepte erdacht, die für Video und Streaming passen. Unser Kollege, der viel Erfahrung aus seiner Arbeit als Regisseur und Dramaturg auf analogen Bühnen mitbrachte, ist mit den Künstler*innen den inhaltlichen Schritt ins Digitale gegangen. Und zum Glück gab es ja auch kurzfristig eingerichtete Fördertöpfe, sodass wir die benötigte Hardware anschaffen konnten.
Was wir gelernt haben ist, dass analog und digital zwei Paar Schuhe sind und dass man bei der Umsetzung von ursprünglich analog entwickelten Formaten im Digitalen ganz neu denken muss. Nichts ist so langweilig, wie eine 1 zu 1 Kopie. Die Interaktivität, die Du erwähnst, schätze ich auch von Veranstalterseite als sehr wichtig ein. Sie ist eigentlich der Schlüssel zum Erfolg. Der Austausch macht den Stream interessanter, die Verweildauer steigt und auch die Spendenbereitschaft. Gleichzeitig ist die Interaktivität unseren Künstler*innen teilweise sehr schwer gefallen, da für viele die Vorstellung, dass das Publikum nicht live im Saal, sondern hinter der Kamera im heimischen Wohnzimmer sitzt, noch sehr fremd war.
Inzwischen ist unser angestaubter YouTube Kanal eine kleine, feine digitale Bühne, auf der wir zwischen Dezember 20 und Juni diesen Jahres 21 Veranstaltungen gestreamt haben. Die durchschnittliche Zuschauerzahl der Streams lag auch bei uns über der durchschnittlichen Zuschauerzahl des letzten “normalen” analogen Jahres 2019 und daraus ergibt sich schon die Antwort auf Deine Frage – natürlich machen wir weiter! Im Herbst und Winter werden wir einige Veranstaltungen hybrid anbieten.
Wir haben die Livestreams immer spätestens 24 Stunden nach Ausstrahlung auf privat gesetzt, für Interessierte habe ich jetzt eine kleine Auswahl wieder geöffnet:
Unser Weg ins Netz seit Ende 2020 war eine großartige Erfahrung, die auch frischen Wind bei uns ins Team gebracht hat. ich könnte jetzt noch viel erzählen, über technische Problemchen, rechtliche Fragen, neue Nähe zu unseren Künstler*innen, neue Zielgruppen, möchte es aber doch zusammenfassend dabei belassen: das Digitale ist ein guter Ort für Kultur.
Nach so viel Digitalität möchte ich noch einen Aspekt aufgreifen, den wir bisher nicht besprochen haben. Du hast vorhin das Stichwort “Miteinander” genannt. Wenn wir über unterschiedliche Orte sprechen, müssen wir auch auf die Anbieter schauen. Wie wichtig sind Kulturbetriebe als Marke, besonders wenn sie ihr eigenes Haus verlassen und an andere Orte gehen? Werden sie dort überhaupt als Marke erkannt? Schließt die Diskussion über Orte für Kultur nicht auch die Frage nach den Anbietern mit ein? Sollten Kulturbetriebe sich stärker öffnen für Kooperation und Zusammenarbeit auf inhaltlicher Ebene?
Neue Kooperationen eingehen
Ich kann da jetzt nur aus meiner individuellen Publikumssicht sprechen. Mir werden die Veranstalter vor allem dann bewusst, wenn sie wiederkehrende Angebote wie Festivals oder ungewöhnliche Formate im Programm haben, oder wenn die Atmosphäre des Hauses eine besondere ist. Ansonsten interessieren mich die Darbietenden deutlich mehr. (Die Erfahrung habe ich während meiner Mitarbeit bei einem Veranstalter seitens unseres damaligen Publikums allerdings auch gemacht.)
Der Wiedererkennungswert ist vermutlich höher, wenn der Ort für eine bestimmt Veranstaltung immer derselbe ist. Umgekehrt könnte man aber doch auch aus wechselnden Orten ein eigenes Konzept machen. Das macht natürlich mehr Arbeit, erschließt aber bestimmt mehr neues Publikum, oder?
Die Marke eines Veranstalters hängt vermutlich auch an den Genres, die er anbietet. Da könnte man doch auch bestimmte Genres/Formate mit bestimmten Arten von Orten verknüpfen, v.a. dann, wenn sie ungewöhnlich kombiniert werden. Ich erfinde jetzt mal was: Streichkonzert auf dem Bauernhof ohne Abendkleidung, dafür mit Essen aus dem Hofladen, dazu noch ein Biogetränkeanbieter als Sponsor. Oder Theater am Rheinufer mit anschließenden Workshops und Grillen am Abend. Sehenswürdigkeiten entdecken mit Lesungen aus passenden Romanen oder Gedichten, dazu Schauspieler, die als darin vorkommende Figuren auftauchen und in Interaktion mit dem Publikum improvisieren. Poetryslam an Orten, die man sonst nur mit kalter Verwaltung verbindet… Ach, da könnte man jetzt brainstormen!
Aber dafür braucht man halt auch Künstler, die offen für sowas sind. Und wenn es noch digital genutzt werden soll, dann auch einiges an Technik, oder? Und macht es hinsichtlich der Technik einen Unterschied, ob etwas live gestreamt wird, oder nur aufgezeichnet (jetzt mal abgesehen von der Internetverbindung)?
Den Umgang mit dem Digitalen lernen
Da sprichst du gleich mehrere wichtige Aspekte an. Ich beginne mal mit der Technik, es braucht tatsächlich einiges, um Livestreams anzubieten bzw. Aufzeichnungen zu produzieren. Wir haben mit einem Drei-Kamera-Setting begonnen, was meiner Ansicht nach das Minimum ist. Damit kann man schon immer mal Perspektivwechsel machen, was für die Zuschauer*innen wesentlich interessanter ist, als ein in der Totale abgefilmter Bühnenraum. Inzwischen haben wir neun Kameras und dazu die entsprechende Hardware für Bild- und Tonmischung, Mikrofonie, leistungsstarke, für Videoschnitt taugliche Rechner sowie Tablets für die Künstler*innen, damit sie im Livestream die Zuschauer*innenkommentare lesen können. Im Grunde ist das fast schon ein kleines Fernsehstudio.
Die Hardware ist aber nur der erste Schritt ins Digitale. Wesentlich ist, den Umgang damit zu lernen. Welche Kameraperspektiven sind interessant? Wie kriege ich Bild und Ton synchron zusammen? Wie wird Licht gesetzt? Wie kommen wir in Kontakt mit dem Publikum? Es bedarf tatsächlich zusätzlicher Dramaturgiearbeit, um in Livestreams Zuschauer*innen und Künstler*innen zusammenzubringen. Das war und ist für einige noch fremd und eine echte Herausforderung. Die Vorstellung, dass da auf der anderen Seite der Kamera Menschen sind, die angesprochen werden können und mit denen man in echten Dialog treten kann, mussten wir oft erst vermitteln. Ein wesentlicher Teil bei der Vorbereitung von Livestreams war, zu überlegen, welche Fragen gestellt werden könnten und was über die Performance im engeren Sinne hinaus noch erzählt werden könnte, um das Publikum bei der Stange zu halten.
Im Vergleich zu Aufzeichnungen sind Livestreams aber easy 😉 Bei Aufzeichnungen müssen wir Bühnenmenschen ganz neu denken. Filmisches Storytelling ist ganz anders, als ein Stück, eine Performance oder auch ein Konzert “nur” auf die analoge Bühne zu bringen. Abgesehen davon, dass andere Kompetenzen gebraucht werden, ist es auch zeitlich viel aufwändiger, die Faustregel: “Eine Minute Film braucht eine Stunde Schnitt” gilt tatsächlich. Wenn man sich darauf einlässt, kann aber wirklich Gutes dabei herauskommen was das Beste aus der Bühnenwelt und der Filmwelt vereint.
Dass das Digitale ein Ort für Kultur sein kann, ist inzwischen erkannt und es gibt ja sogar Fördertöpfe dafür. Trotzdem tun sich viele Kulturbetriebe schwer mit einem echten Schritt in diese Richtung. Es wird zwar Hardware angeschafft und der Umgang damit geübt, aber oft fehlt meiner Ansicht nach die Überzeugung. Wie könnten Kulturbetriebe, bzw. deren Menschen überzeugt oder sogar begeistert werden, diesen Ort zu erschließen? Hast Du aufgrund Deiner Erfahrung Tipps bzw. Argumente, wie man skeptischen Kulturmenschen Lust aufs Digitale machen kann?
Digitale Kulturvermittlung wird bleiben
Ach herrje, die alte Frage, wie man „Neuland“ doch noch erobern kann… 😉 Vermutlich geht es nur durch gute Vorbilder, die ihr Wissen teilen. Und den Rest besorgt dann – so krass es klingt – die Selektion. Wer nicht mit der Zeit geht, wird sich nicht halten können… Denn Covid 19 ist bekanntermaßen nicht die letzte Pandemie, mit der wir uns künftig werden rumschlagen müssen. Digital vermittelte Kultur wird also nicht mehr weggehen.
Ich finde es spannend, wie Du das erforderliche Umdenken seitens der Kulturschaffenden beschreibst. Ich nehme mal an, dass viele – gerade kleine – Kulturbetriebe einfach mit einer oder zwei Kameras draufgehalten haben und fertig. Ein Equipment, wie Ihr es jetzt habt, muss man sich nicht nur leisten, sondern auch bedienen können. Das war doch bestimmt eine Sternstunde für die Offenen Kanäle, grade auf dem Land?
Wir sehen es ja auch beim Thema Digitalisierung von Schulen, dass da, wo über die Fördertöpfe entschieden wird, die Meinung herrscht, wenn nur erst die nötige Geräte da sind, dann sei das Thema erledigt. Aber die nützen halt herzlich wenig, wenn keiner richtig damit umgehen kann. Bei Schülern hab ich da noch mehr Hoffnung als beim Kulturpublikum. Da wurden jetzt vielleicht manche in Sachen Home Office mit Geräten ausgestattet und mussten sich deren Nutzung erst erarbeiten.
Wie ist das dann aber seitens der Zuschauer/Zuhörer von digitalen Kulturangeboten? Die brauchen ja auch eine gewisse Medienkompetenz, eine stabile Internetverbindung und geeignete eigene Soft- und Hardware. Wie waren denn da Eure Erfahrungen? Habt Ihr da auch Aufklärungsarbeit leisten müssen, oder lief das von allein? Wie haben die Zuschauer überhaupt zu Euch gefunden? Du hast in der Zeit ja auch die Website neu gemacht. Gab es da noch Änderungen im Hinblick auf die neue Situation?
Neue Bezahlmodelle geschaffen
Early Adopter sind unsere Zuschauer tatsächlich nicht, es gibt aber inzwischen, nach vielen Jahren der Skepsis und Vermeidung, durchaus Interesse und auch Offenheit gegenüber digitalen Angeboten. Besonders in der pandemischen Situation war deutlich, dass Sehnsucht nach Kultur besteht und wenn das nicht analog geht, dann müssen digitale Wege eben gelernt werden.
Von unserer Seite hat das manchmal eine eins zu eins Betreuung erfordert. Einige Menschen aus dem Stammpublikum haben sich bei uns gemeldet und da haben wir dann eben per Mail oder auch mal am Telefon erklärt, wie das funktioniert mit diesem Internet. Das war aber völlig in Ordnung. Wir legen ja großen Wert auf Niederschwelligkeit und das bezieht digitale Angebote natürlich mit ein.
Sehr gut funktioniert hat in dem Zusammenhang unsere neue Website, in die wir die Livestreams und vorproduzierten Videos eingebettet haben. Mit einem Klick konnten die User dann Stream oder Video starten. Ein weiteres sehr gutes Instrument war unser Newsletter. Ich habe immer mit der Ankündigung den Direktlink zum jeweiligen Stream verschickt und das hat super funktioniert. Wir hatten regelmäßig eine Öffnungsquote von über 30% und die Direktlinks wurden auch oft geklickt.
Etwas Positives, das ich in den letzten Monaten beobachtet habe, ist die wachsende Bereitschaft, für digitale Angebote zu zahlen. Wir haben unsere Veranstaltungen ja ohne Bezahlschranke auf Youtube gestreamt und um Spenden gebeten, per Paypal oder per Banküberweisung. Die Spenden lagen durchweg über den Summen, die wir in der Vergangenheit bei analogen Veranstaltungen auf Spendenbasis eingesammelt hatten. Viele haben sich daran orientiert, wie viel sie für ein Ticket bei einer ähnlichen analogen Veranstaltung gezahlt hätten. Das hat uns überrascht und auch sehr gefreut. Wird sich das in Zukunft fortsetzen? Wie ist Dein Eindruck, werden Inhalte gegen Bezahlung im Netz zukünftig mehr akzeptiert werden?
Digitales Erleben statt nur Aufzeichnung
Ich denke schon. Und das nicht nur in Pandemiezeiten. Oft gibt es ja auch Veranstaltungen, die physisch ausverkauft oder zu weit entfernt sind, um analog daran teilzunehmen. Oder es gibt eben ganz neue Konzepte, die explizit auf digitales Erleben ausgerichtet sind, wie Du es ja schon angedeutet hast.
Das Allerneueste sind ja solche Veranstaltungen wie Abba sie entwickelt haben: Sie haben ein eigenes Konzerthaus für das vor Ort Erleben von komplett virtuellen Konzerten geschaffen, die zuvor aus zig Perspektiven digital aufgenommen wurden. Um diese Aufnahmen abspielen und erleben zu können, braucht es eine eigene Technik, daher auch ein eigenes Konzerthaus in London. Natürlich ist das auch woanders replizierbar. Aber im Moment kostet das Einrichten Unsummen, die sie natürlich wieder reinkriegen werden über ihre Konzerte und die von denen, die es ihnen gleichtun wollen und dafür ihr Know How buchen müssen.
Das wäre bestimmt auch mit Theater denkbar, das man dann im Geschehen selbst, statt von vor der Bühne erlebt. Da tun sich ganz neue Möglichkeiten auf. Was uns die Pandemie beschert hat, sind also gerade mal die ersten Schritte. Wir dürfen gespannt sein, was da noch alles kommt!
Inzwischen danke ich Dir sehr für dieses spannende Bloggespräch, liebe Ulrike, und überlasse Dir hiermit das Schlusswort:
Inhalt und Orte entkoppeln
Das Projekt von Abba habe ich auch sehr gefeiert. Das ist eine real gewordene digitale Veranstaltungsvision. Das ist natürlich sehr groß und fortschrittlich gedacht, im Kern ist das aber genau die Richtung, die ich für kulturelle Veranstaltungen in Zukunft sehe. Es wird eine Entkoppelung von Ort und Inhalt geben. Ich wünsche mir und sehe auch schon zwei parallele Entwicklungen: es werden Orte geschaffen oder umgenutzt, an denen sich Menschen treffen können, erst mal unabhängig von einem speziellen Grund. Das kann draußen sein, in Parks, Innenhöfen etc., das können neu gebaute Räume sein, oder umgenutzte, wie Ladenlokale oder ganze Kaufhäuser oder leerstehende Industrie- und Lagergebäude.
Darüber hinaus gibt es eine Lösung vom rein Analogen hin zu hybriden und digitalen Orten und Formaten. Parallel dazu werden Kulturschaffende den Schwerpunkt in ihren Angeboten auf Inhalte legen, die überall funktionieren, wo es eine analoge oder digitale Bühne gibt, ganz unabhängig von einem festen, analogen Theater- oder Konzerthaus. Ich glaube, Kulturschaffende und Kulturbetriebe stehen vor spannenden und von Veränderung geprägten Zeiten. Mal schauen, wo wir in ein paar Jahren sind… Erstmal möchte ich Dir aber ganz herzlich danken für die Einladung zu diesem Gespräch.
Über meine Gesprächspartnerin
Ulrike Dümpelmann verantwortet seit über 15 Jahren die digitale und analoge Kommunikation für die Brotfabrik Bühne in Bonn. Die Leidenschaft für Kultur hat ihr gesamtes Berufsleben von der Buchhändlerinnenausbildung nach dem Abitur über mehrere Stationen bei Bühnen und Museen bis heute geprägt. Vor gut zehn Jahren kam die Begeisterung für digitale Themen dazu. Nach einem Mentoring bei Annette Schwindt und ersten Gehversuchen auf Social Media und als Bloggerin hat sich aus der persönlichen Leidenschaft über die Jahre ein zweites berufliches Standbein entwickelt. Zur Zeit arbeitet sie als Redakteurin für digitale Medien beim Fernsehsender phoenix. – ulrikesmagazin.wordpress.com
Foto von Ulrike: Annette Schwindt
Illustration von Annette: tutticonfetti
In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.
Dies ist mein persönliches Blog, auf dem ich alle meine vorherigen Websites zusammengefasst habe. Daher die buntegemischten Themen: Ich führe Bloggespräche und blogge über Persönliches, Digitales und Kulturelles. Ich liebe es, Menschen zu fotografieren und mich mit Kunst zu beschäftigen. Manchmal schreibe ich auch noch was anderes als Blogbeiträge. Für andere bin ich als Wegbegleiterin in Sachen Kommunikation aktiv. Vor allem bin ich aber eins: Ein Mensch!
Eine Antwort auf „Orte für die Kultur – Ein Bloggespräch mit Ulrike Dümpelmann“
[…] der Brotfabrik Bühne mit Livestrems und digitalen Formaten gehe ich auch ausführlich in dem Bloggespräch ein, das Annette im vergangenen Oktober mit mir geführt […]