Scanner, hochbegabt, oder was? – Ein Bloggespräch mit Anja Hess

Ein Begriff, über den ich immer wieder stolpere, ist „Scanner“ oder „Scanner-Persönlichkeit“. Als sich dann meine heutige Gesprächspartnerin via Twitter auf meinen Bloggespräche-Aufruf hin gemeldet hat, habe ich sie hierher eingeladen. Wir kannten uns vorher noch gar nicht. Umso spannender sollte dieser Austausch werden:

Annette Schwindt

Hallo, Anja! Danke, dass Du Dich zu diesem Bloggespräch bereit erklärt hast. 🙂 Ich habe schon öfter von sogenannten „Scanner-Persönlichkeiten“ gehört, aber nie verstanden, wie sich diese von Hochbegabten, oder anderen besonders verdrahteten Menschen unterscheiden. Woher kommt der Begriff überhaupt und wie bist Du dazu gekommen, Dich damit zu beschäftigen?

Eine besondere Begabung

Anja Hess

Herzlichen Dank Dir, Annette, für die Einladung zu diesem Gespräch, auf das ich schon sehr neugierig bin.

Der Begriff “Scanner-Persönlichkeiten” im Coaching-Kontext wurde von der amerikanischen Autorin und Coachin Barbara Sher geprägt. Sie veröffentlichte 2006 Ihr erstes Buch „Refuse to Choose! A Revolutionary Program for Doing Everything That You Love“ zu diesem Thema. Sie beschreibt darin die unterschiedlichen Scannertypen und macht Mut, diese besondere Begabung zu leben.

Ich selbst bin auf das Thema gekommen, als ich nach einer Erklärung suchte, warum mir Fokussierung so schwer fällt. Denn gerade dies war doch für mich als Solo-Selbständige so wichtig, quasi der Schlüssel zum Erfolg! Das eine Thema für mich zu finden, für das ich brenne und worin ich Expertin bin. Ich kenne zahlreiche Kolleg*innen, wo das hervorragend geklappt hatte. Doch irgendwie spürte ich in mir damals massiven Widerstand und große Unlust auf Fokussierung! Mein Lebensweg ist so bunt, meine Ausbildungen und Abschlüsse zahlreich und vielfältig. Krankenschwester, Heilpraktikerin, Lektorin, Vollblut-Mutter, Künstlerin, Referentin, Autorin, Life-Coachin. Wie nur sollte ich mich mit diesem bunten Blumenstrauß an erworbenem Wissen und Fähigkeiten auf ein einzelnes Thema beschränken?!

Dann fiel mir das oben erwähnte Buch von Barbara Sher in die Hände und mir die Schuppen von den Augen und ein großer Stein von meinem Herzen. Ich erkannte, dass ich eine Scanner-Persönlichkeit bin, ein vielseitig begabter Mensch! Meine Vita ließ keinen Zweifel daran. Ich beschäftigte mich weiter und intensiver mit dem Thema und lernte so mein „Anders-Sein“ wertzuschätzen und es als Chance zu sehen. Diese Erkenntnis hat mein Leben total verändert. Ich gestehe mir heute mehr als ein Herzens- bzw. Expertenthema zu. Denn gerade meine Vielseitigkeit ist mein Markenzeichen!

Welche Erfahrungen hast Du in Deinem Leben mit dem Thema “Fokussierung” gemacht? 

Jeder ist anders

Annette Schwindt

Tja, da gibt es bei mir zum einen das Hyperfokussieren, also das Im-Tunnel-Sein, bei dem ich alles um mich vergesse und plötzlich Stunden vergangen sind. Zum anderen ähnlich wie bei Dir, schnell gelangweilt zu sein und schon die nächsten Ideen ausprobieren zu wollen. 

Ich wünschte mir oft eine Schar von Mitarbeitern, an die man angefangene Projekte einfach zum Vollenden abgeben könnte, und dann nur noch beratend zuständig ist, während man sich schon den nächsten Ideen zuwenden kann. Das liegt bei mir aber auch daran, dass ich offenbar schneller und weiter als viele andere denke. Da geht es mir dann insgesamt zu langsam und mir wird beim Warten langweilig.

Es war und bleibt eine spannende, manchmal auch sehr schmerzhafte Reise, herauszufinden, warum man anders als die anderen tickt. Wichtig ist, dass man versteht, dass im Grunde jeder irgendwo anders ist. „Normal“ ist einerseits ein theoretischer Durchschnittswert und andererseits auch immer auf eine bestimmte Gruppe bezogen, die ihr jeweiliges „Normal“ für sich definiert. Es bleibt also ein Konstrukt. Interessant macht einen erst die Einzigartigkeit. Ob nun als Individuum oder in der Gruppe. Aber ich glaube, es ist für viele schwierig, sich in ihrer Individualität zu akzeptieren. Oder wie sind da Deine Erfahrungen?

Individualität akzeptieren

Anja Hess

Das mit der “spannenden und manchmal auch sehr schmerzhafte Reise”, hast Du sehr treffend formuliert. Tatsächlich ist es für die meisten, bevor sie realisieren eine Scanner-Persönlichkeit zu sein, schwer ihre Individualität zu akzeptieren. Daher ist es so wichtig, sich seiner Vielseitigkeit bewusst zu werden und das Anders Sein als eine ganz besondere Gabe, als ein Geschenk, zu sehen. Doch das ist nicht immer so einfach. 

Scanner-Persönlichkeiten machen im Vorfeld oft die Erfahrung, dass sie als unsteter Charakter abgestempelt werden, der nichts zu Ende bringt und nicht erfolgsorientiert ist. Sie werden als flatterhaft, als Käpt‘n Chaos oder als hoffnungslose Träumer bezeichnet. Lebenskünstler ist dabei noch eine positive Beschreibung. 

Ich kenne solche Schubladen nur zu gut. Und bei mir hat das auch dazu geführt, dass ich anfing, an mir zu zweifeln. Dass ich dachte, etwas an mir wäre falsch.

Scanner merken, dass sie Schwierigkeiten mit manchen „gesellschaftlichen Normen“ haben. Viel zu oft sind klare Entscheidungen oder Durchhaltevermögen gefordert oder Routine, Ausdauer und Fokussierung gefragt. Noch besser, noch schneller, noch mehr ist allerdings meist nicht das Ziel von Scannern. Sie möchten neue Herausforderung meistern, Themen grundsätzlich verstehen und pragmatische Lösungen finden. 

Es wirkt für Kollegen*innen oft seltsam, wenn Scanner-Persönlichkeiten ein Projekt genau dann verlassen, wenn es gerade anfängt flüssig zu laufen. Doch für sie ist dann ihr persönliches Ziel erreicht und die Suche nach einer neuen Herausforderung bzw. Aufgabe steht dann wieder im Vordergrund. Das sieht man auch an den oft sehr „bunten“ oder unterbrochenen Lebensläufen mit unterschiedlichsten Arbeitgebern in verschiedenen Branchen. Vielleicht auch mit Auszeit, Sabbatjahr oder Saisonarbeit.

Scanner-Persönlichkeiten haben optimalerweise in ihrem Arbeitsalltag viel Freiraum für neue Ideen, genügend Abwechslung, immer wieder neue Herausforderungen und Angebote für Fort- und Weiterbildung. Dann können sie ihr Potenzial und ihre Begabungen voll ausleben und der jeweilige Arbeitgeber hat Mitarbeiter, die meist rasch eine unkomplizierte Lösung finden, mit Herzblut dabei sind und sehr kreative Ideengeber sein können.

Was war eigentlich für Dich bei Deiner Berufswahl wichtig?

Immer weiter lernen

Annette Schwindt

In meinem Leben haben sich die Dinge schon immer organisch ergeben. Während des Romanistik- und Soziologiestudiums habe ich angefangen als freie Journalistin zu arbeiten. Gegen Ende des Studiums wurde ich dann gefragt, ob ich nicht volontieren wolle. Das habe ich gemacht, aber dabei festgestellt, dass angestelltes Arbeiten nicht das Richtige für mich ist. Also hab ich ein Aufbaustudium zum Berater für Kommunikation angeschlossen und angefangen, freischaffend zu arbeiten. 

Dann kam Thomas in mein Leben und ich bin nach Bonn umgezogen, wo ich über verschiedene Aufträge und eigene Projekte beim Bloggen und bei Social Media gelandet bin, als das in Deutschland noch kein Mainstream war. Und damit arbeite ich seitdem in verschiedenen Varianten. Alles, was ich unterwegs gelernt habe, kommt mir irgendwo zugute, und ich lerne und entwickle mich immer weiter. 

Zuerst war ich auch bei den technischen Möglichkeiten hängen geblieben, bin dann aber gerade über das Dokumentieren von Projekten wieder zurück zum Fokus auf die Inhalte gekommen. Und da ich immer wieder mit neuen Leuten zu tun habe, sind auch die Inhalte immer verschieden. Nebenbei kann ich ja auch noch eigene Projekte machen, wie zum Beispiel die Bloggespräche hier. Da ist das Thema ja auch ständig ein anderes.

Das Gute am Online-Arbeiten ist, dass man andere Menschen zwar kennenlernt und eng mit ihnen arbeitet, aber man kann auf die Sache fokussieren. Es gibt keine störenden Reize, die ablenken, oder zusätzlich anstrengen. 

Was ich oben schon gefragt hatte, aber von Dir bisher nicht wirklich beantwortet wurde: Was unterscheidet eine Scanner-Persönlichkeit von jemandem z.B. mit ADHS oder jemandem im Autismus-Spektrum? Oder überlappt das? 

Keine medizinische Diagnose

Anja Hess

Das ist eine sehr interessante Frage, auf die ich gerne nochmal näher eingehe, denn ich habe dazu meine ganz persönliche Meinung. ADHS und Autismus sind medizinische Diagnosen, gestellt augrund einer bestimmten Symptomatik. Scanner-Persönlichkeit hingegen ist ein Begriff aus dem Coaching-Bereich und beschreibt bestimmte Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen.

Man kann beides nicht direkt miteinander vergleichen, da es meiner Meinung nach unterschiedliche “Begriffsklassen” sind. Hier werden vorhandene Eigenschaften sozusagen durch zweierlei Brillen betrachtet. Einmal durch die medizinische, die nach einer Diagnose sucht und dabei eher die Auffälligkeiten im Fokus hat. Im anderen Fall durch die Coaching-Brille, die nach Ressourcen sucht, und die Stärkung des Mindsets im Fokus hat.

Es sind zwei verschiedene Sichtweisen bzw. Perspektiven, die aber die gleiche Situation beleuchten können. Beide dienen letztlich einem unterschiedlichen Zweck. Etwas pragmatisch und überzogen formuliert, ist die Medizin angehalten bei den Patienten*innen nach dem “Fehler” zu suchen, um eine Diagnose stellen zu können und den Behandlungsplan festlegen zu können. Im Coaching hingegen versucht man den “Gewinn” herauszuarbeiten und das Mindset der Klienten*innen zu stärken, um sie z.B. aus ihren Selbstzweifeln herausholen zu können.
Das ist ein bisschen wie die “Glas halb voll oder halb leer Philosophie”. Die gleiche Tatsache wird letztlich mit zwei verschiedenen Qualitäten belegt. Das hängt natürlich auch immer von der Ausprägung der Symptomatik bzw. der Schwere der jeweiligen Auffälligkeit ab.

In der Praxis treffe ich immer wieder auf Scanner-Persönlichkeiten, die Jahre zuvor ADHS als Diagnose erhalten haben. Das kann so sein, muss aber nicht. Bei mir persönlich z.B. stand das Thema ADHS nie im Raum. Ähnlich sieht es übrigens auch mit dem Thema Hochbegabung, Hypersensibilität und Hypersensitivität aus. Eine Scanner-Persönlichkeit kann auch gleichzeitig hochbegabt, hypersensibel oder/und hypersensitiv sein. Das trifft aber nicht auf alle zu.

Aber Tatsache ist, wenn es zur Überlappung beider Sichtweisen kommt, betrachten sich viele Betroffene lieber durch die Coaching-Brille und sind erleichtert und dankbar den „Stempel“ ADHS gegen die Auszeichnung „Scanner-Persönlichkeit“ eintauschen zu können. Das sind für den Einzelnen zwei verschiedene Qualitäten, die sich auch unterschiedlich anfühlen.

Ist damit die Frage für Dich ausreichend beantwortet?

Diversität verstehen

Annette Schwindt

Ja, Danke. Ich hab ja ohnehin meine Schwierigkeiten mit medizinischen Sichtweisen auf das Andersverdrahtetsein, zumal die Übergänge fließend sind. Stempel mag ich daher auch nicht, denn von da ist es nicht weit zum Klischee. 

So sind in Deutschland beispielsweise hartnäckige Klischees in Sachen Autismus verbreitet. Dass es sich auch dabei um ein Spektrum handelt und zusätzliche Eigenschaften wie mathematische Hochbegabung oder fotografisches Gedächtnis nicht zwangsläufig dazugehören, ist kaum bekannt. „Autisten haben keine Empathie und keine Gefühle, sitzen wippend in der Ecke und schreien, wenn man sie berührt“, so die Klischees. Wer diesen nicht entspricht, kann kein Autist sein. 

Ich denke, dass man das Verschiedensein von Menschen einfach als solches akzeptieren und auch wertschätzen sollte. Diversität bedeutet nicht nur sexuelle Orientierung oder Herkunft. Da gibt es noch viel mehr. Wenn das gelebt würde, müsste auch niemand Angst vor Diagnosen haben. Aber leider wird alles, was als nicht „normal“ angesehen wird, gleich mit Medikamenten betäubt. Und Frauen sollen gefälligst noch mehr reinpassen als Männer. Damit zu leben ist unglaublich anstrengend und macht körperlich und seelisch krank. Am Ende stehen eine verfrühte Sterblichkeit und erhöhte Selbstmordrate. 

Dabei könnte man auch hier auf die jeweils individuellen Stärken der Menschen fokussieren. Das aber nicht aus der Leistungsperspektive, sondern aus der des glücklichen Lebens jedes Einzelnen und der Gesellschaft überhaupt. Das fängt ja schon in der Schule an.

Kann man Scanner-Persönlichkeiten schon vor dem Erwachsenenalter erkennen? 

Scanner-Persönlichkeiten erkennen

Anja Hess

Ja, grundsätzlich kann man mit der entsprechenden Erfahrung auch “junge” Scanner schon identifizieren. In meiner Generation (70er/80er) passiert es eher durch rückwirkendes Verstehen. Einfach, weil das Thema noch relativ “neu” ist und es dieses in meiner Jugend noch nicht so gab.

Die “kleinen Scanner” sind sehr wissbegierig und interessieren sich schon früh für die größeren Zusammenhänge. Sie zerlegen gerne Dinge, um mehr über die Funktionalität zu erfahren. Allerdings erobern alle Kinder sich von Anfang an neugierig ihre Welt und sind offen für Neues. Von daher ist es in der Lebensphase schwierig zwischen einer “Scanner-Persönlichkeit” und einem aufgeweckten Kind zu unterscheiden. 

Die meisten “kleinen Scanner” sind schon früh unglaublich ideenreich und kreativ. Sie basteln geschickt aus einfachsten Materialien oder Resten (z.B. Verpackungsmaterialien) mit viel Phantasie etwas Neues. Das ist dann oft nicht perfekt in der Ausführung, aber es ist immer wieder verblüffend, auf welche Ideen die Kleinen so kommen.
Sie brauchen und lieben das kreative Chaos in ihrem Zimmer und haben viele unvollendete “Werke” aller Art herumliegen, die nur unter Protest verräumt werden dürfen.

Ständig haben sie neue Ideen, für die sie dann Feuer und Flamme sind und die sie SOFORT verwirklichen möchten. Eine Begeisterung, die aber bei der Umsetzung auch schnell wieder abflauen kann. Sie probieren gerne die unterschiedlichsten Hobbys aus, ein paar Wochen oder Monate, ein oder zwei Jahre. Länger meist nicht.

Es sind die Kinder, die gerne hin und wieder die Hausaufgaben zu Hause vergessen oder aber Habseligkeiten irgendwo liegen lassen. Längere Zeit still sitzen oder sich in feste Strukturen einpassen, fällt ihnen schwer. Dazu haben sie zu viele Ideen im Kopf und wollen diese umsetzen. 

Da die “Scanner-Persönlichkeit” oft mit Hochbegabung oder Hochsensibilität gekoppelt ist, zeigen Kinder auch die hierfür oft typischen Verhaltensweisen. Sie können z.B. schon früh einen komplexen Wortschatz haben, gerne schwierige Aufgaben lösen oder sich besonders gut in andere Menschen hineinversetzen.

Wie schaut das beim Thema Autismus aus? Dauert das mitunter nicht auch lange, bis diese besondere Verdrahtung erkannt wird? Ist das üblicherweise in der Kindheit der Fall oder kann das auch erst beim Erwachsenen sein?

Anderssein und die Gesellschaft

Annette Schwindt

Das verändert sich gerade, ich bin da allerdings auch keine Expertin. Früher war es wohl so, dass man es nur bei den Kindern erkannt hat, deren Verhalten sehr deutlich von dem anderer abweicht. Außerdem wurde es wohl häufiger bei Jungs diagnostiziert. Ob das auch heute noch so ist, weiß ich nicht. Aber es wird wohl inzwischen häufiger diagnostiziert, weil mehr darüber bekannt ist. 

Gerade bei Frauen wird es allerdings oft gar nicht oder erst spät erkannt. Weil ihre Kinder die Diagnose bekommen, oder weil sie bestimmte Folgeprobleme gesundheitlicher Art bekommen. Die werden allerdings auch wieder oft fehldiagnostiziert. Das Wissen in Sachen Autismus ist noch nicht sehr verbreitet, weder in der Öffentlichkeit, noch bei Medizinern oder Psychologen. Es gibt spezielle Diagnosestellen, aber dort einen Termin zu bekommen, ist nicht autistengerecht organisiert. Die Gesellschaft ist halt auf Nichtautisten ausgerichtet. Und wie beim Thema Anderssein generell wird in der Regel über diese anderen entschieden, statt mit ihnen zusammen. 

Im Moment ist das Thema Autismus gerade in. Die Berichterstattung reproduziert aber oft noch die alten Klischees, statt sachlich aufzuklären, oder einfach autistische Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Eltern von autistischen Kindern wird auch gefährlicherweise oft noch eingeredet, sie müssten nur die richtige Therapie buchen, dann würde das Kind sozial kompatibler. In Wahrheit werden die Kinder dabei gebrochen, weswegen sich autistische Aktivisten stark gegen solche Therapien aussprechen. 

Wenn nicht erkannt wird, dass jemand Autist ist, zieht das nicht nur soziale, sondern v.a. gesundheitliche Probleme nach sich. Deswegen muss mehr Bewusstsein für das Thema geschaffen werden. Vor allem sollten die Menschen begreifen, dass anders zu sein, nicht automatisch etwas Negatives bedeuten muss. Aber leider ticken die meisten Menschen so und fühlen sich von Anderssein bedroht. Siehe im Fall Greta Thunberg. 

Wie ist das bei Scanner-Persönlichkeiten? Vorausgesetzt, sie wird früh erkannt, wie sollte so ein Kind dann am besten gefördert werden?

Junge Scanner fördern

Anja Hess

Wenn man eine solche Begabung erkennt, kann man diese Kinder natürlich gezielt fördern, wie es z.B. mit hochbegabten Kindern auch passiert.

Ich persönlich denke, dass so junge Scanner in offeneren Schulsystemen, wie z.B.einer Montessori Schule mehr Freiraum für ihre Begabung haben und dort ihre Talente gefördert werden. Auch je kleiner und individueller die Schule, desto besser ist es für sie.

Doch auch in der Freizeit kann man diesen Kindern möglichst viel Freiraum lassen, ihre Vielfältigkeit auszuprobieren und z.B. das Kinderzimmer auch mal zum Versuchslabor werden lassen.

Die “jungen Scanner” sollten ausreichend Möglichkeiten haben, sich auszuprobieren, neue Herausforderungen anzunehmen und ihre Neugier nach Wissen befriedigen zu können. Und wenn sie dann schon nach wenigen Monaten die Sportart oder das Hobby wechseln wollen, dann sollen sie das auch tun können, ohne Bemerkungen wie z.B. “Du solltest jetzt schon mal bei einer Sache bleiben. Dein Bruder spielt auch schon seit 6 Jahren Klavier.”

Sinnvoll ist es auch, darauf zu achten, dass die “jungen Scanner” in ihrer Kindheit nicht von Glaubenssätze, wie z.B. “Ich muss mich immer für eine Sache entscheiden” oder “Ich muss bei einer Sache bleiben, auch, wenn sie mir schon längst keinen Spaß macht”, geprägt werden, die sie dann im späteren Leben stark einschränken. 

Mir fallen da spontan zwei Redensarten ein, mit denen ich als Kind aufgewachsen bin und die mich im späteren Leben lange in Bezug auf das Ausleben meiner Vielseitigkeit eingeschränkt haben: “Schuster bleib bei Deinen Leisten” und “Besser den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach”. Beides Sätze, die sagen, dass man nicht zu neugierig sein sollte und am besten seine Komfortzone nicht verlässt. Wie soll man dann aber Neues erkunden und neue Herausforderungen finden?

Kennst Du ähnliche Sätze aus Deiner Kindheit, die dich im späteren Leben ausgebremst haben?

Jeden Menschen wertschätzen

Annette Schwindt

Ja, klar. Das waren aber weniger so allgemeine Weisheiten als vielmehr wiederkehrende Sätze über mich und mein Anderssein. Einige wenige waren positiv, die meisten aber negativ. Und da ich damals noch nicht einordnen konnte, was mit mir los war/ist, dachte ich mein Leben lang, ich wäre verkehrt. 

All die Versuche, mich anzupassen, sind gescheitert, bis ich meinen späteren Mann kennengelernt habe und zum ersten Mal einfach sein durfte wie ich bin. Ohne ihn gäbe es mich vermutlich längst nicht mehr, denn dann hätte ich meine Gesundheit vollends ruiniert in dem vergeblichen Versuch so zu funktionieren wie die Gesellschaft es erwartet.

Außerdem bin ich glücklicherweise auch noch anderen Menschen begegnet, die mich auf meinem Pfad der Selbsterkenntnis weitergebracht haben. Darunter waren auch Autisten, die sich gewundert haben, warum das bei mir noch niemand bemerkt hatte. Das war dann eine große Erleichterung, denn plötzlich erklärten sich so viele Dinge aus meinem bisherigen Leben, die mich vorher ratlos hinterlassen hatten. Seit ich mich meinem Verdrahtetsein entsprechend verhalte, geht es mir insgesamt deutlich besser. Natürlich habe ich weiter Probleme mit der Welt um mich herum, aber ich habe aufgehört den Nichtautisten zu spielen. Ich spreche es jetzt offensiv an, dass ich anders ticke. Und wer damit nicht klar kommt, dem renne ich nicht mehr hinterher.

Irgendwo ist jeder anders als die anderen und solange man keinem damit schadet, sollte sich niemand dafür schlecht fühlen müssen. Egal ob man ihn Scanner nennt oder Autist oder ihm sonst eine Bezeichnung gibt, die ihn unterscheidbar machen soll. Wir sind alle Menschen und sollten einander als solche wertschätzen.

Danke, dass Du dieses Gespräch mit mir geführt hast. Ich denke, wir haben beide etwas Neues gelernt, oder?

Anja Hess

Das auf alle Fälle! Du hast mich für das Thema Autismus sensibilisiert. Und wie immer im Leben lohnt es auch hier, vorgegebene und festgeschriebene Meinungen zu hinterfragen und mit Menschen über deren persönliche Erfahrungen in der Praxis zu sprechen. Ich habe Dir mit Begeisterung gerne und aufmerksam zugehört. Herzlichen Dank für das Gespräch liebe Annette und das Angebot für dieses wunderbare Format der Begegnung im Bloggespräch.

Über meine Gesprächspartnerin

Anja Hess

Anja Hess lebt und arbeitet als Life- und Businesscoach in München. Sie unterstützt ihre Klient*innen dabei, Blockaden aufzulösen, sich selbst wert zu schätzen und Konflikte zu bewältigen. Dabei setzt sie auf bewährte Methoden des NLP und des systemischen Coachings.
Dank ihrer Scanner-Persönlichkeit und ihres “bunten” Lebenslauf bringt sie vielfältige Erfahrungen, Empathie und Intuition in ihre Arbeit mit ein. Neben Praxis und Familie engagiert sie sich bei “A runde Sach” ehrenamtlich für Vereine, schreibt eigene Geschichten, malt Acrylbilder, entwirft Kartensets und vieles mehr. Eben typisch “Scannerfrau”… – anja-hess-coaching.de

Foto von Anja Hess: Simone Naumann
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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2 Antworten auf „Scanner, hochbegabt, oder was? – Ein Bloggespräch mit Anja Hess“

Sehr geehrte Frau Schwindt,
Defitiv gibt es einen Zusammenhang zwischen Autisten und Scannertypen. Inwieweit es sich auf die Hochsensibelen beschränkt, kann ich nicht beurteilen, wobei dies bestimmt eine Verbindung ist…es existiert so eine Art magische Anziehung und Verständnis ohne Worte, als wenn man sich in einer anderen „Umgebung“ trifft…
Was vielleicht mal interessante Punkte wären: Warum müssen Scanner typen erst sich selbst verlieren, um sich dann wieder zu finden? Warum haben die Meisten eine sogenannte schwere Kindheit und/oder Schicksalsschläge in ihrem Lebenslauf? Ist das nötig, um die Sensibilität/Empathie entstehen zu lassen? Warum wird immer versucht sie zu brechen/Formen? Warum finden sie frühstens im Adolesenzalter Freunde/Gleichgesinnte?…
Zum Punkt Montessori-Schulen: Leider werden sie dort auch von normalen Lehrern unterrichtet. Was den Bruch dennoch zur Folge hat.

Insbesondere da solche Kinder alles alleine machen möchten (und denke auch müssen). Sie brauchen (anfangs) nur jemanden, der bei Bedarf den „Karren aus dem Dreck zieht“ und an ihnen glaubt. Sie brauchen mehr Liebe, Verständnis und Anerkennung als andere. Sie lassen sich leichter beeinflussen, da der Wunsch nach Harmonie stärker ausgeprägt ist – dafür zerstören sie sich sogar selbst…

Hallo Frau Schwindt und Frau Hess,
ich sehe mich als autistischen Scanner und bin demzufolge überzeugt, dass beide Eigenschaften in einem Menschen vereint sein können. Wenn man den Anteil der Scanner-Persönlichkeit als Schmetterling oder Überflieger betrachtet, dann ist der Autismus der Anker, wahlweise definierbar als Bremse oder auch Bodenhaftung.
Die Schwierigkeit liegt darin, Vielfalt und Abwechslung unter einem Dach von autismusgerechtem Selbstschutz auszuleben. Hochsensitivität und Trauma sind bei mir ebenfalls Themen.
Das eine schließt das andere ebensowenig aus, wie ein Beinbruch eine Ansteckung mit Grippe.

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