Als meine heutige Gesprächspartnerin diese Frage kürzlich auf Facebook stellte, habe ich sie gleich gebeten, mit mir ein Bloggespräch zu diesem Thema zu führen. Eigentlich wollten wir uns über Zuversicht unterhalten, aber dann fanden wir, dass das ja auch irgendwie mit dem Heimatgefühl zusammengehört. Wie und warum, darüber wollen wir hier sprechen:
Hallo Bianca, wie schön, dass Du diesem Gespräch zugestimmt hast! 🙂 Wir kennen uns inzwischen schon lange online und Du hast uns auch schon zweimal besucht, wenn Du gerade in Bonn warst. In Deinem Beruf hast Du viel mit Reisen zu tun und in Deinem Leben bist Du schon oft umgezogen. Bekommt man dadurch einen stärkeren Bezug zum Thema Heimat und woran machst Du das Heimatgefühl fest?
Heimat ist, wo Dein Herz ist
Hallo Annette! Danke, dass ich dabei sein darf, um mit Dir über dieses Thema zu reden. Tatsächlich frage ich mich immer wieder mal, was Heimat eigentlich ist. Warum sich mir diese Frage stellt, habe ich in dem von Dir erwähnten Facebook-Post kurz umrissen: Ich bin in der brasilianischen Metropole São Paulo geboren und mit knapp 6 Jahren nach Deutschland gekommen. Mein Vater fand nach einem Jahr endlich eine Stelle, doch bis dahin waren wir mittlerweile 3x umgezogen. Mit 19 hatte ich dann mein eigenes Heim und habe bis zum 30sten Geburtstag mehrmals die Wohnungen gewechselt. Der Liebe wegen ging’s dann ins Saarland – hier zog es mich 6x in den 12 Jahren in andere Wände. Zwischendrin wohnte ich auch noch in Frankreich, knapp über der Grenze.
Manche mögen vielleicht sagen, ich hätte keine Heimat, doch tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ich lasse mich bei all den Veränderungen immer von meinem Herzen leiten. Wenn es sagt, geh! Dann gehe ich. Ich setze gerne auch Impulse in die Welt und schaue was passiert. Da war oft schon viel Gutes dabei 🙂
Für mich ist Heimat kein Ort, kein Haus und auch kein Mensch. Heimat sitzt tief in dir, davon bin ich überzeugt. Ob ich durch meine Erfahrungen einen stärkeren Bezug als andere zum Thema Heimat habe, weiß ich gar nicht so recht. Gute Frage.
Wie ist es denn bei Dir: warst Du schon immer in Bonn und würdest sagen, dass die Stadt Deine Heimat ist? Oder wie würdest Du Heimat um-/beschreiben? Übrigens Fun Fact: Ich las einst, es gäbe für das Wort Heimat keine Übersetzung. Im Englischen mag das so sein, Ob das allerdings generell so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. 😀
Daheim, Zuhause, heimisch fühlen
Ja, in anderen indoeuropäischen Sprachen gibt es meines Wissens nur Wörter für Heimatland oder Zuhause. Der englischsprachige Mensch würde es vermutlich mit home übersetzen, was wörtlich Zuhause bedeutet und etymologisch ja dem ersten Wortteil entspricht. In anderen Sprachen würde man es vermutlich umschreiben mit „wo ich herkomme“ etc. Ansonsten scheint es das Wort wirklich kaum zu geben.
Im Deutschen ist der Begriff ja nicht unproblematisch. Die einen sehen ihn verklärt und besingen ihn in schwülstigen Liedern (Heimattümelei), die anderen vereinnahmen ihn für abstruse Ideologien. Überhaupt mutet er doch etwas altmodisch an, oder? Also ich würde vermutlich auch eher von „Zuhause“ bzw. „mich an einem Ort zuhause fühlen“ sprechen.
Wo das dann ist, wechselt für mich auch. Ich wohne zwar erst seit 18 Jahren in Bonn, aber hier habe ich mich gleich „heimisch“ gefühlt. Vorher war Speyer und die Kurpfalz mein Zuhause. In Heidelberg, wo ich studiert habe, habe ich mich aber beispielsweise nie zuhause gefühlt. In Oldenburg aber schon. Und in Paris und in St Raphaël! Dabei bin ich da nie für lange Zeit gewesen.
Für mich hängt Heimat stark an Menschen oder vertrauten Bezugspunkten. In Paris ist es das Quartier Latin und das Seineufer. Als ich 2018 nach fast 20 Jahren wieder dort angekommen war, bin ich erst mal in Tränen ausgebrochen vor Glück. Jetzt wo ich darüber nachdenke, hat Wasser oft damit zu tun. Der Rhein, die Hunte, das Mittelmeer an der Côte d‘Azur. Ich glaube, in den Bergen könnte ich mich nicht so leicht heimisch fühlen…
Wie ist es bei Dir? Gibt es etwas, das all Deine Zuhause-Stationen gemeinsam haben?
Die eigenen Wurzeln kennen
Noch während ich Deine Antwort las, dachte ich an mein letztes Mal zurück, als mir vor Glück die Tränen kamen an einem Ort: Es war im Sommer 2014, und ich stieg gerade aus der Metrô. Bepackt mit großem Rucksack und Umhängetasche stand ich mitten in Sāo Paulo City an einer der größten, 4-spurigen Stadtstraße – und weinte. Es überkam mich ein seltsam vertrautes, ja, heimisches Gefühl, das sich noch verstärkte, als ich zwei Blöcke weiter ging und plötzlich in der Straße stand, wo ich meine ersten Lebensjahre verbrachte. Das war an diesem Tag genau 30 Jahre her.
Wenn ich so darüber nachdenke, gab es in meinem Leben zwei Phasen, in denen ich meine Wohnungen, sagen wir vorübergehende Heimatorte, aufteilen kann: in der ersten Phase liebte und lebte ich das Stadtleben, doch als ich mit 32 nach Frankreich zog, änderte sich das komplett. Heute kann ich mir nicht schöneres vorstellen, als mitten im Grünen zu leben. Heimlich träume ich sogar von einem einsamen Häuschen tief im Wald 😃
Eine Sache hat diesen Wandel jedoch unterstützt: meine 3-monatige Reise 2014 durch Brasilien. Für mich war es auch eine Reise zu meinen Wurzeln, ich besuchte Orte aus meiner Kindheit, lernte die Sprache wieder neu und traf meine brasilianische Familie, die ich Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte. Diese Reise war wie ein Puzzleteil aus der Vergangenheit, das ich nun wieder in meinem Herzen habe. Ja, wenn Du so willst, hat Heimat mit all dem auch zu tun – doch wenn man nicht immer dort sein kann, ist es gut, Heimat immer bei sich zu wissen.
Bei der Diskussion was Heimat ist, überlege ich gerade auch, was das Gegenteil davon sein könnte. In der Regel würde ich sagen, es ist die „Fremde“. Und womöglich ein Ort des sich Fremdfühlens. Was, wenn wir Heimat als Sicherheit, weil etwas Bekanntes begreifen und die Fremde als Unsicherheit, weil etwas Unbekanntes? Dann könnte aus der Fremde immer auch Heimat werden. Irgendwann. Wie siehst Du das?
Menschen und Gemeinschaft
Ja klar, aber ich glaube, es kommt auch darauf an, in welchem Alter man an einen neuen Ort kommt, und ob man die Sprache schon spricht. Meine Familie väterlicherseits wurde nach dem 2. Weltkrieg aus dem Gebiet, das für sechs Generationen ihre Heimat gewesen war, vertrieben. Da war meine Oma schon verwitwet mit zwei Kindern. Sie hat ihr ganzes Leben von dem Ort ihrer Jugend als „Daheim“ geredet. Obwohl sie dort auch deutsch gesprochen haben. Lustigerweise ist die Familie wieder ganz in der Nähe von dem Ort gelandet, aus dem der ursprüngliche Auswanderer Ende des 18. Jahrhunderts gekommen war. Trotzdem haben sie damit nichts Heimatliches verbunden.
Ich denke, es liegt an dieser Fluchterfahrung, von der ich in meiner Kindheit in allen Details erzählt bekam, dass ich Heimat eher mit Menschen als mit einem Ort verbinde. Aber während das früher meine Oma war, sind es heute mein Mann und mein bester Freund, der mich schon sehr lange kennt.
Passenderweise habe ich während wir dieses Gespräch führen eine Dokumentation über das Thema Heimat auf Netflix entdeckt und geschaut. Dort wurde berichtet, dass der Heimatbegriff immer dann besonders in Mode kommt, wenn ein Wandel im Gange ist. So auch heute. Und dann wurden ältere einheimische Deutsche gezeigt, die sich durch eine Neubausiedlung mit eher jüngeren Bewohnern aus aller Welt ihres Heimatgefühls beraubt sehen. Während die Alteingesessenen sich weiter in Vereinen und am Lagerfeuer treffen, vernetzen sich die Neuen digital. Eine Vermischung beider Gruppen gibt es kaum. Nur eine Frau versucht, einen Dialog herzustellen, bislang allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Muss Heimat immer Abgrenzung bedeuten oder kann Heimat auch neu entstehen? Was glaubst Du?
Grenzen überwinden
Ich verstehe gut, was Du meinst. Meine Oma ist damals aus Ostpreußen geflohen und hat mir als Kind immer viel über die Zeit damals erzählt. Wenn ich so daran zurückdenke, dann glaube ich auch, dass Ostpreußen für sie Heimat bedeutete, obwohl sie später Mann und Kinder in ihrer neuen Heimat hatte. Verrückt, wie anders Heimat von jedem empfunden wird. Dass ich Heimat weniger mit Orten und Menschen in Verbindung bringe, liegt vermutlich darin begründet, dass ich schon als Kind so oft umgezogen bin und soziale Kontakte einfach wegfielen. Aber auch deshalb, weil meine ganze Familie auf der halben Welt lebt und ich deshalb mehr das Gefühl in mir trage, dass die Welt auch meine Heimat ist. Ein Erdenkind sozusagen. 😀
Deine Frage ist klug, denn Heimat hat immer auch was mit Grenze zu tun – und nicht nur dann wenn man Heimat als Ort betrachtet. Es gibt bei vielen von uns (und ich versuche stets, sie nicht zu haben) Grenzen im Kopf: wenn sie zu stark ausgeprägt und nicht überwunden werden können, kann sicher keine neue Heimat entstehen. Dann lebt man in seinem eigenen Narrativ und lässt Neues nicht herein, macht möglicherweise sogar alles schlecht, was nicht zu seiner Heimat – seiner Welt – gehört. Daher denke ich, kann Heimat auch neu entstehen – meine Wahlheimat, das Saarland, ist der beste Beweis dafür. Ich fühlte mich nie wohler als hier 🙂
Heimat und Sprache
Verstehst Du denn Saarländisch? Ich komme ja ursprünglich aus der Kurpfalz, da ist der Dialekt ähnlich. Und der Dialekt des Auswanderers, von dem ich väterlicherseits abstamme und den meine Familie in ihrem Siedlungsgebiet bewahrt hatte, stammt auch aus dem Gebiet, das heute zwischen Saarland und Rheinland-Pfalz liegt. Insofern verbinde ich damit auch Heimat. Mit Bönnsch verbinde ich hingegen kein Heimatgefühl, mit Bonn aber schon. Aus Oldenburg haben wir uns Ausdrücke wie „Moin“ oder „muss ja, ne?“ mitgebracht.
Im alltäglichen Sprachgebrauch herrscht aber unser jeweilig gefärbtes Hochdeutsch vor. Bei mir hört man den Süddeutschen Raum vor allem an Wörtern wie „net“ (nicht) oder dem falsch sortierten Nebensatz nach weil: „Das Auto hat gebremst, weil die Ampel war rot.“ Bei Thomas hört man die Trierer Region am ch in „Spocht“ (Sport) und daran, dass er beim Sprechen das weiche ch nicht vom sch unterscheidet. Das klingt immer wie ein Zwischenlaut aus beiden. Sprachlich können wir unsere jeweilige Herkunft also nicht verleugnen, mixen sie aber mit neuen Einflüssen.
Ist das bei Dir auch so, dass Du sprachliche Besonderheiten aus Deinen verschiedenen Zuhauses bewahrt hast? Verbindest Du Heimatgefühle eher mit dem Deutschen oder mit dem brasilianischen Portugiesisch?
Dialekt und Identität
Ich höre gerne Portugiesisch, obwohl ich es nicht mehr so gut verstehe. Für mich ist die Sprache wie eine Melodie aus vergangenen Zeiten, die einem die Emotionen wieder aufleben lassen. Mit dem Deutsch hingegen verbinde ich weniger Gefühl, dafür aber mehr mit den Dialekten, die ich mal mehr, mal weniger gut spreche. Lustig ist, dass ich mit den Menschen, mit denen ich in Karlsruhe aufgewachsen bin, immer noch auf Karlsruherisch rede. Das kann ich mit etwas Eingewöhnungszeit noch ganz gut.
Als ich ins Saarland kam, hat mich mein damaliger Partner in Saarländisch unterrichtet – das war mit viel Spaß auf beiden Seiten verbunden. Hier im Saarland ist der Dialekt ein wichtiger Teil der Deutsch-Französischen Historie. Es wird Deutsch mit Französisch gemischt und dies mit teils sehr besonderen Ausprägungen, die ich dann nicht mehr verstehe. Aber es ist wohl wie in vielen Ländern: wer der Sprache des Landes mächtig ist, oder sich zumindest bemüht, sie zu sprechen, wird mit offenen Armen empfangen. Sicher trugen meine damals dürftigen saarländischen Sprachkenntnisse dazu bei, hier schnell Menschen kennenzulernen und in ihre Heimat aufgenommen zu werden – die dann auch zu meiner wurde. ❤️
Du hast recht, wenn Du sagst, dass Sprache auch Heimat ist, das empfinde ich auch so. Überhaupt haben Sprache und Herz eins gemein: beides können wir einerseits immer bei uns tragen und andererseits mit lieben Menschen teilen. Sprichst Du denn auch manchmal in verschiedenen Dialekten, je nachdem wer vor Dir steht?
Kulinarische Heimatgefühle
Ja, wenn mir jemand aus der Kurpfalz begegnet, dann verfalle ich früher oder später auch in den Dialekt. Das fühlt sich allerdings zunehmend merkwürdig an, weil ich immer weniger Gelegenheit dazu habe. Andere Dialekte oder Akzente kann ich nachahmen, das mache ich aber mehr zum Spaß.
Was ich aber wohl übernehme, wenn ich vor Ort bin, sind regionalspezifische Wörter oder Wendungen wie „sich ausmehren“ im Thüringischen oder „das geht sich nicht aus“ im Österreichischen. Damit ist aber kein Heimatgefühl verbunden. Wenn ich aber bestimmte norddeutsche Wörter wie „sutsche“ verwende, die ich von Kai gelernt habe, dann schon. 😉
Was bei mir ganz stark Heimatgefühle auslöst, sind bestimmte Gerichte, die meine Oma immer gekocht oder gebacken hat. Erst neulich habe ich zum ersten Mal selbst Dampfnudeln nach Omas Rezept gemacht. Schon allein der Geruch, der Anblick und dann vor allem der erste Bissen, haben mich total umgehauen. Liebe geht halt doch durch den Magen. ❤️ Und ganz heftig wird es bei einem bestimmten Lied, das die Oma immer für mich gesungen hat, wenn ich mir als Kind wehgetan hatte oder krank war.
Gibt es Speisen, Getränke, Gerüche, oder Lieder mit denen Du Heimat verbindest und mit denen Du dieses Gefühl auch heute noch herstellen kannst?
Heimatliches miteinander teilen
Deine Dampfnudeln habe ich auf Facebook gesehen – die sahen unfassbar lecker aus! Und ja, bei mir sind es Pão de queijo (brasilianische Käsebällchen) und allem voran Guaraná Antarctica, ein Erfrischungsgetränk, das mich an Brasilien erinnert. Und natürlich die Königsberger Klopse meiner Oma – mit denen ich mehr sie als Mensch verbinde. Wir standen uns sehr nah und ich war lange Zeit die einzige, die ihr Rezept dafür kannte ❤️
Wie wäre es, wenn wir uns nach der Pandemie mal wieder treffen – dann bringe ich Käsebällchen und Guaraná mit und wir essen dies mit Deinen Dampfnudeln – das stelle ich mir als interessante Mischung (und sehr lecker!) vor. 😀 Und wenn Du magst, suchen wir danach auf YouTube alte Songs raus und erzählen uns heimatliche Erinnerungen. Das fänd´ ich sehr schön. 🙂
Oh, die Königsberger Klopse würde ich aber auch gern probieren! Da musst Du wohl mindestens ein Wochenende hier bleiben. 😉 Dann haben wir auch Zeit „Ich denke oft an Piroschka“ zu schauen, der meine Oma immer an ihre Heimat erinnert hat. Und ich mache Dampfnudeln und andere Oma-Leckereien. Das wird schön! ❤️
Über meine Gesprächspartnerin
Bei Bianca schlagen zwei Heimatherzen in der Brust: Sie wurde in Brasilien geboren und wuchs ab dem 6. Lebensjahr in Deutschland auf. Privat liebt die heutige Wahlsaarländerin das Wandern und das Bloggen – gerade auf lebedraussen.de schreibt sie über ihre Abenteuer- und Wanderreisen in Europa. Die Marketingexpertin lebt ansonsten, sehr naturnah und glücklich mit ihrem Partner und dem Kater Ivan, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Saarlouis.
Foto von Bianca: Bianca Gade
Avatar von Annette: tutticonfetti
In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.
Dies ist mein persönliches Blog, auf dem ich alle meine vorherigen Websites zusammengefasst habe. Daher die buntegemischten Themen: Ich führe Bloggespräche und blogge über Persönliches, Digitales und Kulturelles. Ich liebe es, Menschen zu fotografieren und mich mit Kunst zu beschäftigen. Manchmal schreibe ich auch noch was anderes als Blogbeiträge. Für andere bin ich als Wegbegleiterin in Sachen Kommunikation aktiv. Vor allem bin ich aber eins: Ein Mensch!
Eine Antwort auf „Was ist Heimat? – Ein Bloggespräch mit Bianca Gade“
Liebe Bianca, liebe Annette,
wieder so ein Bloggespräch, das eine Kaskade von Gedanken, Assoziationen und Erinnerungen auslöst – obwohl ich, wenn ihr mich gefragt hättet, steif und fest behauptet hätte, mit dem Heimatbegriff nichts anfangen zu können. Die Gründe für diese Distanz zum Begriff habt ihr ja angesprochen.
Vertreibung bzw. Flucht der Großeltern: Aus den kargen, teils bitteren Notizen meines Urgroßvaters habe ich verstanden, dass seine Frau und er sich mit der „neuen Heimat“ so schwertaten, weil sie – zumindest vorübergehend – sozial abgestiegen waren und sich ihrer Würde beraubt sahen. Ob man sich irgendwo heimisch fühlt, hat eben nicht nur damit zu tun, ob genug Essen auf dem Tisch steht und die Nachbarn einen willkommen heißen, sondern es wird oft gemessen an dem, was man vorher hatte.
Sprache und Heimat -> Sprache als Heimat: Genau das war meine Antwort an mich selbst, als ich mich vor vielleicht 35 Jahren erstmals fragte, wo meine Heimat ist. Die deutsche Sprache gibt mit ein Gefühl von Sicherheit, von Vermögen (im Sinne von Können), von Vertrautheit ohne jede Enge.
Das Reisen: Heimweh und Fernweh sind in mir eng verwandt – zumindest eine bestimmte Art von Fernweh, die Sehnsucht nach einem einst sehr fremden Ort, den ich mir anverwandelt habe. Oft war da eine kleine Hürde: in einer lauten, zunächst nur als anstrengend empfundenen indischen Großstadt eine mehrspurige Straße überqueren, sich in den Flow begeben, sicher drüben ankommen, dann instantan entspannt weitergehen. Wahrscheinlich werde ich nie wieder nach Indien reisen, und es war nie Heimat im engeren Sinne, aber das Land wird mir auch nie wieder völlig fremd werden.
Speisen der Kindheit: Oh ja, die Gerüche, Aromen und Texturen gehen direkt ins limbische System und verwandeln mich in ein Kind zurück. Meine Schwester und ich haben vor Jahren mal eine Liste mit solchen Kindheitsspeisen angefangen, und obwohl bei uns früher kaum bürgerlich gekocht wurde und Essen keinen großen Stellenwert hatte, wurde die Liste erstaunlich lang. Auch die niederländische Heimat meines Vaters nahm darauf viel Raum ein, obwohl meine Großmutter keine große Köchin war. Aber sogar zerkochte mehlige Kartoffeln in brauner Soße können wundervolle Kindheitserinnerungen und Heimatgefühle auslösen! 🙂