Von einem, der anderen helfen möchte

Eigentlich wollte ich heute weitere Fotos von meinem Mann Thomas posten. Statt dessen finde ich, es ist Zeit, dass mal jemand etwas über ihn schreibt. Er selbst ist nämlich zu bescheiden, um das auf seiner Über-mich-Seite jemals so darzustellen. Also tue ich das:

Andere aus dem Konflikt begleiten

Gerade hat Thomas die Prüfung zum Mediator bestanden. Der Kurs dafür fand von Januar bis November jeweils an einem kompletten Wochenende in Köln statt. Dazu kam ein weiteres Treffen pro Monat ebenfalls in Köln zum gemeinsamen Lernen und Fälle durchspielen. Klingt jetzt nicht so viel? Naja, das Ganze machte er neben seinem Hauptberuf als Jurist in der staatlichen Sozialverwaltung, wo er dieses Jahr in seine zweite Amtszeit als Personalratsvorsitzender gewählt worden ist. Reicht immer noch nicht?

Er macht das mit vier bis fünf Stunden Schlaf pro Nacht und minus vier Stunden pro Tag, die er länger braucht, um das zu schaffen, was andere mal eben nebenbei erledigen. Thomas ist nämlich Tetraplegiker, d.h. er hat eine Querschnittlähmung durch eine Halswirbelverletzung, die ihn nicht nur auf den Rollstuhl angewiesen sein lässt, sondern ihn auch an Oberkörper, Armen und Händen stark einschränkt. Assistenz hat er keine, er macht alles selbst.

Nochmal auf Anfang und jetzt erst recht

In der 12. Klasse hatte er als Beifahrer einen Autounfall, durch den diese Einschränkungen zustande kamen. Sein Schuldirektor wollte ihn daraufhin das Abitur nicht in seinem bisherigen Gymnasium machen lassen, sondern ihn „zu seinesgleichen“ schicken. Diese Rechnung hatte der Herr aber ohne meinen Schwiegervater gemacht! Thomas machte sein Abitur nur ein Jahr später als vor dem Unfall geplant, machte den Führerschein und begann ein Jurastudium. Währenddessen war er in der Jugendarbeit und im Gemeinderat aktiv und fuhr regelmäßig nach Norddeutschland zu weiterführenden Therapien die es damals nur dort gab.

Gegen Ende des Studiums beendete er diese zusätzlichen Therapien. „Ich hab mich gefragt, was mir wichtiger ist: Ein unabhängiges Leben mit Beruf, oder ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit aber keine Arbeit.“ Er entschied, dass er lieber mit Rollstuhl arbeiten gehen wollte, als mit der Aussicht darauf, sich ein bisschen mehr bewegen zu können (mehr war nicht drin), erwerbslos zu werden. Er absolvierte sein Referendariat und es begann ein Bewerbungsmarathon mit vielen Absagen bis er schließlich hier in Bonn starten konnte. Dort arbeitete er sich weiter bis zum Regierungsdirektor und wurde schließlich Personalratsvorsitzender.

In guten wie in schlechten Tagen

In der Zwischenzeit hatten wir uns kennengelernt und geheiratet. Dann wurde ich sehr krank und war darauf angewiesen, dass er sich um mich kümmerte. Also lernte er Kochen und Backen und zaubert inzwischen die tollsten Sachen, nicht nur für mich, sondern auch für Freunde und Verwandte, die uns besuchen. Großartig anstrengen kann ich mich bis heute nicht, also schmeißt Thomas das Einkaufen und Kochen, ich die organisatorischen Dinge und den Haushalt (zusammen mit einer Haushaltshilfe, die uns einmal die Woche für zwei Stunden unter die Arme greift). Wer uns nicht kennt, würde denken, es sei genau umgekehrt: Ich die große laute Fußgängerin, die ihn den armen Behinderten versorgt. Dass ich ohne ihn aufgeschmissen wäre, sieht man ja nicht.

Zum Glück hat Thomas einen familienfreundlichen Arbeitgeber, der es ihm erlaubt, später als andere anzufangen. Um ab 9 Uhr vor Ort sein zu können, muss er nämlich um 5 Uhr aufstehen, denn Anziehen und alles andere dauern aufgrund der körperlichen Einschränkungen sehr viel länger. Dafür bleibt er dann abends auch länger als der übliche Beamte im Büro. Vor 19 Uhr oder noch später kommt er selten heim, kauft meistens noch was ein oder macht sonstige Besorgungen in der Mittagspause. Das bedeutet jedesmal Transfer ins Auto, Rolli auseinanderbauen und verstauen, fahren, Rolli auspacken, zusammenbauen, Transfer, Besorgungen machen und wieder von vorn und daheim nochmal.

Einen Tag pro Woche kann er seit einiger Zeit glücklicherweise freinehmen, um Physiotherapie und andere organisatorische Dinge unterbringen zu können. Das Wochenende wird dann fürs Ausruhen bitter benötigt.

Für andere da sein

Dass er die Hälfte dieser wertvollen Zeit jetzt fast ein Jahr lang für eine Weiterbildung zum Mediator einsetzt, war also keineswegs eine leichte Sache. Auch erstmal eine Fortbildungseinrichtung zu finden, die barrierefrei ist, war nicht einfach. Da nochmal ein dickes Danke an die INEKO, die ihm sogar eine eigene Toilette gebaut haben! Umso froher sind wir jetzt, dass es geschafft ist. Ab sofort kann Thomas sich nebenberuflich als Mediator und im dazugehörigen Verein betätigen.

Was ich mit diesem Artikel sagen will? Zum einen natürlich, wie unsagbar stolz auf und dankbar für meinen wunderbaren Mann ich bin! Zum anderen, dass er einer ist, der nicht lange über Inklusion redet, sondern einfach macht. Für Thomas ist es völlig selbstverständlich, sich Gedanken um das Wohl der ganzen Gesellschaft zu machen und seinen Teil dazu beitragen zu wollen. Das fängt bei mir, Freunden und Familie an und geht bis zum politischen Engagement in Sachen Digitalisierung und Zukunft der Arbeit vor Ort und online.

Diesen Artikel hier wird er mir übrigens nur peinlich berührt zugestehen, aber da muss er jetzt durch! 😉


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24 Antworten auf „Von einem, der anderen helfen möchte“

Hallo Annette,

meine Hochachtung Deinen Mann und Dich. Ich wüsste für mich persönlich nicht, ob ich solche Energien frei setzen könnte.

Ich wünsche Euch auch weiterhin sehr viele gemeinsame Energien
Gerhard

Wahrlich ein sehr starker Mann an deiner Seite! Ich finde es sehr schön zu lesen, mit wie viel Selbstverständlichkeit dein Mann durchs Leben geht-er hätte sich ja auch einfach nur dem Rollstuhl ‚ergeben‘ können. Mir (selber MS aber ohne Rollstuhl) tut es so wahnsinnig gut über solch starke und motivierende Menschen zu lesen!
Danke für den schönen Beitrag!
Alles Gute dir und deinem Mann.
Liebe Grüsse
Katarina

Ein wirklich großartiges Portrait für einen Mann, der sein Leben meistert, so viel Gutes tut und dennoch so bescheiden auftritt.

Gratulation zu diesem Lebensglück, liebe Annette. Ich wünsche mir sehr, Dich und Thomas bald persönlich kennenzulernen.

Eure Prisca

Hallo Annette,
seltsam, welche scheinbaren Umwege man manchmal geht, um einander kennen zu lernen. Deshalb ist es um so schöner, dass ich dich heute in der #netzwerkliebe (https://annakoschinski.de/netzwerkliebe/) gesehen habe und danach gleich auf deinem Blog stöbern gegangen bin.
Dieser Artikel über deinen Mann ist so wundervoll geschrieben, dass ich dir unbedingt einen Kommentar hinterlassen muss. Ich spürte nämlich beim Lesen, wie lieb du ihn hast und wie dankbar du für ihn bist.
So etwas in Worte zu fassen, dazu braucht es nicht nur eine gegenseitige, wertschätzende Vertrauensbasis, sondern auch noch die Kenntnis der Worte, die man dafür nutzt. Du hast das hervorragend umgesetzt. Vielen Dank dafür.
Ein kleines bisschen hat es mich auch an mich und meinen Mann erinnert. Er ist auch so bescheiden. Trotzdem habe auch ich einige Male von ihm geschrieben. Das bleibt ja nicht aus, wenn man täglich miteinander lebt.
Liebe Grüße von Edith

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