Das Haus

von Annette Schwindt

Sie hatte es oft im Vorbeigehen betrachtet, wie es da auf dem kleinen Hügel thronte, der inmitten eines wildwachsenden Gartens lag. Die schmiedeeisernen Torflügel zum Garten waren fest verschlossen, und selbst wenn sich ein Schlüssel gefunden hätte, hätten sie nicht nachgegeben, so verrostet, so überwuchert waren sie.

Das Haus selbst war dreigeschossig und aus braunen Backsteinen gebaut, die unter dem Dach zu einem geometrischen Relief gemauert waren, wie man es oft bei alten Fabrikgebäuden sieht. In der Tat hatte es in der Nähe einmal eine Sektkellerei gegeben, die jedoch längst einer modernen Wohnanlage, die sich immer weiter ausbreitete, hatte weichen müssen.

Geblieben war nur das Haus auf dem Hügel. Niemand wohnte mehr darin, soviel konnte man auch von weitem sehen. Die verwitterten Lamellenfensterläden blieben immer geschlossen, am Tag und in der Nacht. Es schien ihr, als läge das Haus in einer Art Dornröschenschlaf, den nichts, nicht einmal die Kräne und der Baulärm, zu stören vermochte. Der Gedanke, dass es vielleicht bald geweckt werden konnte, verursachte eine dumpfe Wehmut in ihr, jedesmal wenn sie an dem Haus vorbeikam.

haus_seiteSie wollte es ihm zeigen. Es war ein lauer Frühsommerabend, der die ersten Sonnenstrahlen seit Tagen mit sich brachte. Die Straße war noch feucht von dem vorangegangenen Dauerregen, in den glitzernden Pfützen spiegelten sich bizarre Wolkenfetzen. Alles erstrahlte in der leuchtenden Abendsonne. Sie betraten das Grundstück über die es umgebende Baustelle. „Zutritt auf eigene Gefahr!“, stand auf dem vom Wetter verwaschenen Plastikschild, das nur noch mit einem Draht am Bauzaun hing. Es bewegte sich leise im Abendwind und verursachte ein sanftes Klingeln, jedesmal wenn es an die Metallstreben schlug. Der Lehmboden war völlig aufgeweicht und bildete einen gelblichen, glitschigen Schlick, in dem ihre Füße ein wenig versanken.

Um sie herum die Neubauten, Eigentumswohnungen, die jedoch längst noch nicht vollständig bewohnbar waren. Nur auf der vom Haus abgelegenen Seite sahen sie Vorhänge an den Fenstern und Pflanzen auf den Balkons. Der Komplex, der fast direkt an das Haus grenzte, stand noch im Rohbau. Nackter grauer Beton und an ihm flatternde Plastikplanen.

Auch er war fasziniert. Gemeinsam überquerten sie die verlassene Baustelle, auf der wahllos Schutt verstreut lag. Zerbröckelte Backsteine, abgebrochene Dachsparren, leere Flaschen, die wohl die Bauarbeiter weggeworfen hatten, eine verbogene Drahtkonstruktion und zerbrochene Plastikeimer. All das schien halb im Schlamm versunken und verdoppelte sich im Zerrspiegel trüber Wasserlachen. Und als wollte der wilde Garten, der das Haus umgab, sich ausbreiten, wuchsen überall auf der Baustelle Unkraut, Disteln und Margeriten, immer mehr, je näher sie dem Haus kamen.

Die Bagger hatten einen künstlichen Hügel aufgehäuft, der die Giebelseite des Hauses fast verdeckte. Sie erklommen ihn und sahen, daß sich hier die regelmäßige Fensterreihe der Frontseite fortsetzte. Jetzt, da sie dem Haus so nah waren, konnten sie runde Ornamente, direkt unter der Dachlinie ausmachen, steinerne Augen, die den Schlaf des Hauses bewachten. Die Rückseite des Hauses war ebenso gegliedert, aber als sie zu ihr hinunterschlitterten, entdeckten sie zwei ebenholzfarbene Toreinfahrten, die aber verschlossen waren. In den Stockwerken darüber fehlten einige Fensterscheiben. Sie waren durch Pappe und Spanplatten ersetzt worden.

Es musste einmal einen Anbau gegeben haben, von dem jetzt nur noch ein zweigeschossiger Turm übrig war. Er paßte ganz und gar nicht zu dem Haus, denn er bestand nicht aus Backsteinen, sondern schien älter, wie der Teil eines Schlosses, das hier nie gestanden hatte. Der bläulich graue Verputz wurde unterbrochen von ehemals gestrichenen Sandsteinelementen, Simsen und Fenstern, deren Farbe so abgeblättert war, daß sie sie unmöglich identifizieren konnten. Die Fensterbögen ruhten auf korinthischen Kapitellen, die Simse waren an mehreren Stellen geborsten und hatten lange Risse im Mauerwerk verursacht.

Der Turm

Am merkwürdigsten war die Tatsache, daß der Raum im Erdgeschoss des Turms keine Öffnung, keine Treppe besaß, über die man in das darüberliegende Stockwerk hätte gelangen können. Vermutlich war dieser Raum nur durch den nicht mehr vorhandenen Anbau zugänglich gewesen. Aber als sie um den Turm herumgegangen waren, hatten sie nirgends eine Tür gefunden.

Sie wandten sich wieder dem Haus zu, kamen an die zweite Giebelseite, von der aus sie sich einen Weg in den Garten bahnten. Der Eindruck, den sie von der Straße aus gehabt hatten, bestätigte sich. Alles wucherte wild vor sich hin, so daß sie sich durch hohes Gras bewegen mussten.

Hinter ein paar Bäumen ragte ein großer, hoher Pavillon hervor, ganz aus Holz und einst wohl türkisgrün gestrichen. Einer gotischen Kapelle gleich rankten sich filigran durchbrochene Wände empor, um in schlanken Blumenornamenten zusammenzulaufen, die das Dach trugen, das schon zur Hälfte zerfallen war.

Der Pavillon

Nachdem sie den Garten durchstreift hatten, kehrten sie zurück an die Giebelseite, wo sie eine Treppe in den Keller des Hauses entdeckt hatten. Von hier konnte man ins Innere des ersten Stockwerks sehen, da ein Fensterladen zersplittert war. Hinter den Scheiben hing ein drapierter schwerer roter Samtvorhang, der den Blick gerade noch auf die hohen Stuckwände des Zimmers freiließ.

Die Kellertreppe verlockte sie. Da er nicht wagte, das Haus zu betreten, trennten sie sich. Er ging wieder in den Garten, um den Pavillon näher zu betrachten, sie stieg die Treppe hinunter.

Treppe

Langsam senkte sich die Nacht herab. Im schwindenden Licht verwandelte sich der Garten in einen Dschungel, schienen sich die Bäume zu bewegen, die Blumen flüsterten ihm zu.

Er wußte nicht, wie lange er auf den Stufen des Pavillons gesessen und von den Zeiten geträumt hatte, als hier ein Streichquartett gespielt hatte und Damen in weißen Kleidern, mit großen Hüten und Sonnenschirmchen, Arm in Arm mit pomadefrisierten, schnauzbärtigen Herren in Nadelstreifen Gesellschaft gehalten, Konversation getrieben und sich am hauseigenen Sekt gelabt hatten.

Er begann, sich zu fragen, wo sie blieb. In dem Haus musste es bereits dunkel sein, da ja die meisten Fenster kein Licht hereinließen. Er kehrte zu der Kellertreppe zurück, stieg hinunter und versuchte, die Tür zu öffnen. Vergeblich. War sie gar nicht in das Haus hineingekommen? Er ging um das Haus herum, rief ihren Namen, konnte sie aber nirgends finden. Er rüttelte an den Holztoren auf der Rückseite, suchte sie im Turm, ohne Erfolg.

War sie vielleicht im Haus eingeschlossen? Hatte sich die Tür hinter ihr verhakt und jetzt suchte sie einen anderen Ausgang? Er sammelte ein paar Steinchen und warf sie gegen die Fenster, rief laut ihren Namen. Keine Antwort.

Er lauschte angestrengt, versuchte Hilferufe auszumachen, aber da war nichts. Absolut nichts. Schließlich gab er es auf. Es war inzwischen tiefe Nacht und er konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Vielleicht war sie einfach fortgegangen.

Als er auf die Baustelle kam und noch einmal auf das Haus blickte, war ihm, als sähe er den aufblitzenden Reflex zweier Augen im oberen Turmzimmer. Eine Eule, vermutete er, und machte sich auf den Heimweg.

Er schlief unruhig in dieser Nacht, wachte am Morgen schweißgebadet auf, denn er hatte geträumt, etwas rüttle an seinen Rolläden. Vielleicht hatte es in der Nacht einen Sturm gegeben und der Wind hatte die Geräusche verursacht. Er fragte seinen Nachbarn, der sagte, dass die Nacht ruhig und sternenklar gewesen sei. Er ging zum Telefon, wählte ihre Nummer, aber niemand nahm ab. Er wollte zurück zu dem Haus, aber als er auf die Baustelle kam, machten ihm die Bauarbeiter unmissverständlich klar, dass er da nichts verloren hatte. Also landete er wieder auf der Straße und sah hinauf zu dem Haus, das wie immer ruhig auf seinem Hügel thronte.

Er fuhr zu ihrer Wohnung, läutete, klopfte, aber niemand öffnete. Er fuhr wieder nach Hause, fragte den Nachbarn, ob jemand nach ihm gefragt hätte, nein, ging zum Anrufbeantworter, nichts. Nachdenken!

Er musste eingeschlafen sein, denn es war bereits dunkel. Noch im Liegen suchte er tastend nach dem Schalter seiner Nachtischlampe, als er bemerkte, daß er nicht allein im Zimmer war.

Sie kam im Dunkeln zu ihm, nahm seine Hand: „Komm!“

 

Text und Fotos © Annette Schwindt Creative Commons License

Weiterlesen: Mein Hintergrundbericht von 1999 zu diesem Haus aus „Alla Hopp/Speyerer Tagespost“ als pdf-Download


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